„Sorry. Nicht einmal das weiß ich.“
Es entsteht eine kleine Pause. Joe wischt einige Male über seine Glatze, ganz so, als wolle er sein Gehirn stimuliere. Marlies würde gerne weitere Fragen stellen, aber sie fürchtet, dass Joe dann ärgerlich werden könnte.
„Kommen wir mal zu Herrn Hankler. Wie häufig ist der bei Ihnen im Hotel?“
„Meinen Sie privat oder geschäftlich?“
Marlies lacht: „Das dürfte er nicht so eng sehen, oder?“
Sie schaut zu Joe, aber der tut so, als hätte er sie nicht gehört.
„Na ja, er ist manchmal auch mit seiner Familie da. In den letzten Jahren aber kaum mehr. Der Basti ist ja schon ein junger Mann.“
„Und beruflich?“
„Ich schätze, einmal im Monat.“
„Finden Sie das nicht ungewöhnlich, dass Ihr Abrechnungssystem monatlich gewartet werden muss?“
„Es gibt immer wieder Updates und Korrekturen. Heutzutage könnte man das auch übers Internet erledigen. Es hat sich bei uns halt so eingebürgert, dass der Kurt persönlich vorbeikommt. Er ist ja auch ein guter Freund.“
„Und wie steht Ihre Frau zu Herrn Hankler?“
„Wie meinen Sie das? Sie hat nicht viel mit ihm zu tun, weil ich mich um die Abrechnung kümmere.“
„Und Antonia?“, fragt Marlies dazwischen.
„Natürlich kennen sich die gut. Antonia arbeitet seit fast zehn Jahren hier.“
„Ich würde jetzt noch gerne mit Ihrer Frau und Antonia, wie ist gleich ihr Nachname, reden.“
„Kanczler, Antonia Kanczler. Sie ist Ungarin.“
„Ich hätte ohnehin gerne alle Namen, Adressen und Telefonnummern Ihrer Bediensteten, auch von Ihrer Frau.“
Bram ruft Ana an. Die kommt kurz danach zur Tür herein.
Sie umarmt Marlies.
„Schade, dass wir uns so wiedersehen“, sagt sie.
„Nicht vergessen. Ich bin nur die Frau des Kommissars.“ Marlies lacht. „Ich hoffe, die Einladung zu einer Schitour gilt trotzdem noch.“
„Selbstverständlich.“
Joe verzieht das Gesicht.
„Ich geh ja schon“, sagt Marlies und winkt Ana zu, die sich auf den Platz von Bram gesetzt hat. „Auf bald“, sagt Ana hinter Marlies her, die die Türe hinter sich schließt. Enttäuscht, von der weiteren Befragung ausgeschlossen zu sein, blickt sie den Gang in Richtung Speisesaal hinunter und sieht gerade noch Antonia im Speisesaal verschwinden. Marlies folgt ihr mit leisen Schritten. Warum schleiche ich so, wundert sie sich.
„Hallo Antonia“, spricht Marlies in deren Rücken. Antonia dreht sich mit weit geöffnetem Mund um und hält die rechte Hand aufs Herz.
„Jesus Maria, jetzt haben Sie mich erschreckt.“
„Tschuldigung. Das Sie könnten wir doch weglassen, oder? Ich bin die Marlies.“
Sie streckt ihr die Hand hin.
„Aber Sie gehören doch auch zur Polizei.“
„Nein, ich bin nur die Frau des Kommissars. Von Beruf bin ich Lehrerin, Zeichenlehrerin.“
„Ach so. Es ist nur, dass ich jetzt verhört werden soll. Hat mir die Ana gesagt.“
„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Mit der Sache hast du ja nichts zu tun.“
„Nein, gar nichts. Warum werde ich dann befragt?“
„Du weißt vielleicht Details, die dir gar nicht wichtig zu sein scheinen. Ich meine zum Kurt und seiner Begleitung.“
„Die Frau habe ich zum ersten Mal gesehen.“
„Und Kurt?“
„Natürlich kenne ich ihn schon lange. Er ist ja oft da.“
„Und was denkst du über ihn?“
„Was soll ich denken? Ich komme gut aus mit ihm.“
Gut auskommen, denkt Marlies. Sie erinnert sich an den ersten Abend, als Antonia Kurt und Anke auffällig unfreundlich bedient hat. Sie hat nicht einmal die Tischkerze angezündet, als Anke danach gefragt hat. Antonias Blick war hasserfüllt. Warum nur?
„Darf ich dich ganz ehrlich fragen, warum du ihn vor zwei, drei Tagen so böse angesehen hast?“
Marlies fällt auf, dass Antonia ihrem Blick nicht standhält. Auch schon vorher nicht. Ihre Augen wandern unruhig zur Seite und dann wieder zur Decke. Gleich darauf senkt sie den Kopf.
„Kann mich nicht erinnern. Aber wenn, dann war das eher wegen der Frau. Die hat mir die ganze Zeit giftige Blicke zugeworfen.“
„Hm, ist ja nicht so wichtig. Eine Sache noch. Gehst du auch Schifahren?“
„Ich?“ Antonia zeigt mit dem Finger auf sich.
„Ich und Schifahren? Wirklich nicht. Ich hasse Kälte und Schnee. Und, ich hab’s nie gelernt.“
„Ist dir sonst etwas aufgefallen an Kurt und seiner Begleitung?“
„Ich weiß nicht, ob ich das sagen soll. Es war am Mittwoch, da hat man laute Stimmen aus Kurts Zimmer gehört. Ich glaube, die haben sich heftig gestritten. Kurt ist gegen Mitternacht noch heruntergekommen. Zufällig war ich noch auf. Er hat dann einen Cognac bestellt.“
„Du bist dran, Antonia.“ Ana steht im Eingang und winkt Antonia zu sich.
Frische Luft! Marlies hat sich ihre Schijacke übergezogen und geht vor dem Hotel auf und ab. Einzelne Schifahrer kehren ins Hotel zurück. Sie wirken in ihren dicken, bunten Anoraks und mit ihren schwerfälligen Bewegungen wie Wesen von einem anderen Stern. Wegen der klobigen Schischuhe drehen sie den Oberkörper bei jedem Schritt als eine Art Schwungmasse mit. Marlies erkennt niemanden. Vielleicht sind die meisten erst heute angekommen. Ihre Gedanken wandern aber schnell wieder zum Fall, zu ihrem Fall. Mit der Antonia stimmt was nicht. Sie hat nicht einmal bedauert, dass Anke zu Tode gekommen ist oder gebracht wurde. Und sie hat Marlies nicht angesehen, vor allem, wenn die Sprache auf Kurt gekommen ist. Vielleicht ist sie wegen Kurts Frau, die sie sicher kennt, so sauer. Frauen neigen zur Solidarität, wenn es gegen Männer geht, die ihre Ehefrau betrügen. Antonia muss ja auch die Kinder gut kennen. Ein Grund mehr, Kurts Verhalten zu verurteilen. Und dieser Streit? Warum hat sie davon erzählt? Marlies ärgert sich. Sie hätte Antonia noch fragen sollen, ob Kurt etwas darüber gesagt hat. Schließlich sind sie um Mitternacht gemeinsam an der Bar gewesen.
„Abfahrt. Ich hol noch schnell das Auto vom Parkplatz.“
Joes Stimme lässt Marlies zusammenzucken.
Komisch, dass Joe beharrlich schweigt und noch komischer, dass ich nichts frage, denkt Marlies. Sie versucht, all die Details zum Fall ‚Anke‘ in ihrem Kopf zu ordnen. Und vielleicht ergeht es Kurt auch so.
Liezen, die Bezirksstadt mit ihrem ausladenden Gewerbegebiet entlang der Bundesstraße, haben sie längst hinter sich gelassen, als Kurt ansatzlos zu Marlies sagt: „Jetzt ist aber Schluss mit deinen Ermittlungen.“
„Ja, okay. Ich hab’s ja versprochen.“
„Genau.“
Wieder ist nur das Fahrgeräusch zu hören. Sogar das Autoradio, das sonst immer läuft, bleibt ausgeschaltet.
So fahren sie eine weitere halbe Stunde dahin.
Marlies erschrickt, als Joe zu sprechen beginnt.
„Ich muss kurz austreten. Fahren wir bei der Raststätte Kammern raus. Ein Kaffee wär auch nicht schlecht.“
„Wie du magst, Joe.“
Ohne mich würde es gar keinen Fall geben, denkt sie.
Die Raststätte mit ihrer Konstruktion aus hellem Holz und großen Glasflächen wirkt von außen großzügig und einladend. Über dem Eingang verspricht der große Schriftzug „Landzeit“ Bodenständiges. Kaum ist man durch die automatische Schiebetür getreten, stellt sich Ernüchterung ein. Die Ansammlung an Resopaltischen und Plastikstühlen erinnert Marlies an eine Mensa aus Studienzeiten. Auch der Lärmpegel ist abschreckend. Im linken hinteren Bereich grölt eine Gruppe Jugendlicher. Die Burschen heben die Bierflaschen und versuchen, die Mädchen zu begrapschen und zu küssen. Fünfzehn, sechzehn schätzt Marlies. Joe kommt von der Toilette zurück. Zwei Burschen beginnen zu raufen. Marlies glaubt, dass es um das hellblonde Mädchen mit langen, glatten Haaren geht, das einer der beiden bedrängt hat. Faustschläge, Schreie, Schlichtungsversuche. Einer geht zu Boden und der andere tritt ihn mit den Füßen. Zwei Burschen versuchen ihn zurückzuhalten, aber er schüttelt sie ab.
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