„Ich glaube, heute müssen wir mit dem Kaffee aus der großen Thermoskanne vorliebnehmen. Nix Cappuccino, kein großer Espresso für dich“, sagt Marlies enttäuscht.
„Ich bring dir was mit. Was hättest denn gern?“ Joe ist stehengeblieben und lächelt Marlies an. Sie findet, dass er mit seinem glatt rasierten Kopf besonders männlich und sexy aussieht.
„Warum bist du nur so lieb? Wie hab ich das verdient?“
„Einfach durch deine pure Existenz. Also was?“
Manchmal würde sich Marlies gerne ganz normal mit Joe unterhalten. Nicht mit diesem ironischen Unterton. Er könnte ja auch „Weil ich dich immer noch liebe wie am ersten Tag“ sagen. Aber würde sie diesen Satz nicht gleich wieder unter ‚gespielte Übertreibung‘ einordnen? Sie weiß, dass sie ihren Anteil an diesem meist spaßig klingenden Umgangston hat. Irgendwie ist es ein Spiel, aus dem sie nur selten herausfinden.
Joe muss zweimal hin und her gehen, um das Gewünschte zum Tisch zu schaffen. In der Zwischenzeit hat Marlies das Kinoprogramm zum zweiten Mal überflogen. Sie ist nicht fündig geworden und blättert die Zeitung lustlos von vorne durch. Auf der Seite fünf bleibt sie hängen und starrt mit offenem Mund auf den halbseitigen Bericht mit einem Bild vom Lawinenstein.
„Unbekannte Schifahrerin tödlich verunglückt“, lautet die Schlagzeile. Die Frau mittleren Alters hatte sich vermutlich schon vorgestern bei dichtem Nebel ins Gelände verirrt und war abgestürzt. Erst am nächsten Tag fiel einem Variantenfahrer eine offensichtlich schwer gestürzte Schifahrerin auf, die fünfzig Meter links von ihm unter einem Felsabbruch bewegungslos lag und auch auf Zurufen nicht reagierte. Die Rettungskräfte konnten nur mehr den Tod feststellen. Die Unbekannte trug weder einen Ausweis noch ein Handy bei sich. Die Frau war noch nicht als abgängig gemeldet worden. Auch ein Rundruf in den umliegenden Hotels und Pensionen ist ohne Ergebnis geblieben. Die Polizei bittet um zweckdienliche Hinweise.
Marlies schaut auf das abgedruckte, unscharfe Foto. Es wurde wohl bei der Bergung aufgenommen. Das Gesicht der Frau ist voller Abschürfungen und blaugrünen Verfärbungen. Trotzdem glaubt Marlies, Anke zu erkennen. Das herzförmige Gesicht mit dem spitzen Kinn, in dessen Mitte ein winziges Grübchen platziert ist, die vollen Lippen mit der nur wenig geschwungenen Oberlippe, die breite Augenpartie.
„Joe. Schau nur.“
„Was ist denn so Wichtiges? Wollen wir nicht zuerst frühstücken?“
„Schau bitte auf das Foto.“
Sie hält ihm die Zeitung hin.
Joe überfliegt auch den Text und schüttelt den Kopf.
„Das ist doch diese Anke, Joe.“
„Hm, auf dem Foto ist wenig zu erkennen. Außerdem hätte ihr Begleiter sie schon vorgestern als abgängig gemeldet. Spätestens aber beim Anruf im Hotel wäre der Groschen gefallen.“
„Das ist Anke. Ich bin mir sicher. Schau nur die Augen an, den Mund und das spitze Kinn.“
Joe zuckt mit den Schultern und schiebt sich Eierspeise auf die Gabel.
„Ich frag mal den Hubert. Wo sind eigentlich die anderen?“
„Den Kellner habe ich schon gesehen und einen Cappuccino für dich bestellt. Beruhig dich doch wieder und frühstücken wir erst einmal. Dann kannst du immer noch fragen.“
Marlies ist aber schon aufgestanden und eilt mit der aufgeschlagenen Zeitung zum Hausdiener.
„An guten Morgen“, sagt der, als er Marlies auf ihn zukommen sieht. „Was sagen‘s zum Wetter?“
„Hubert, Sie haben doch auch die Frau gesehen, mit der Herr Kurt vorgestern noch da war.“
Sie hält ihm die Zeitung hin.
„Ohne Brille seh ich gar nix. Aber, ich hab’s eh einstecken.“
Er setzt die Brille auf und schaut auf das Bild.
„Schrecklich, das is, weil sich die Leut so überschätzen.“
„Ja, schon gut. Erkennen Sie die Frau auf dem Foto wieder?“
„Na. Das ist ja so unscharf.“
„Haben Sie die Frau vom Herrn Kurt gestern gesehen?“
„Kann mich nicht erinnern. Freitag? Da war ich drei Stunden beim Arzt. Eine Frechheit, wie lange man heutzutage warten muss.“
Marlies winkt mit der Hand ungeduldig ab. „Bitte Hubert, jetzt denken’s nochmal nach.“
„Das bringt auch nix. Ich kann mich echt nicht erinnern. Und außerdem, viel Denken macht Kopfweh.“ Seine Mundwinkel machen einen Ausbruchsversuch nach oben. Als dies nicht gelingen will, wendet er sich ab. „Ich muss mich jetzt wieder ums Buffet kümmern.“
„Wo ist denn die Antonia heute?“
„Die ist mit den Chefitäten nach Liezen gfahrn. Zum Einkaufen. Sie wissen ja, Shopping macht happy.“
„Komisch. Am Samstag sind alle drei weg?“
„Wenn’s um die Abreise geht. Die Rechnung können’s auch bei mir zahlen. Und mit dem Gepäck kann ich ihnen auch helfen, wenn ich da fertig bin.“
„Hm, kann ich vielleicht einen Blick in die Gästeanmeldungen werfen? Bitte, ich würde nur gerne wissen, wie diese Anke genau heißt.“
Hubert schaut Marlies kurz mit offenem Mund an. Seine Zähne wirken schmutzig, die Lippen sind voller Risse und passen damit zur zerfurchten dunklen Lederhaut seines Gesichts. Marlies erwartet ein „Das darf ich nicht“ oder etwas ähnlich Abschlägiges.
„Sie lassen eh net locker, oder? Die Frau schafft an und der Mann spurt. So is halt.“
„Danke. Sie sind ein Schatz.“
„So kommen’s mit.“
Er geht zur Rezeption vor und gibt ihr den Ordner mit den Anmeldungen. „I muss wieder zruck. Aber zum Schaun brauchens mi eh net.“
Marlies blättert die Gästeblätter eine Woche zurück. Sie findet weder einen Kurt noch eine Anke. „Da stimmt was nicht, da ist was faul“, sagt sie halblaut zu sich.
Als sie zum Tisch zurückkommt, wird sie von Joe mürrisch empfangen.
„Kannst du nie Ruhe geben? Ich habe mich echt auf ein gemütliches Frühstück mit dir gefreut.“
„Es tut mir schrecklich leid, mein Schatz.“
Sie setzt sich wieder auf ihren Platz und nimmt einen Schluck vom Kaffee, den sie sofort wieder ausspuckt.
„Der ist ja kalt.“
„Wundert’s dich? Du bist seit mehr als zehn Minuten weg.“
„Du, Joe. Stell dir vor. Bei den Gästeanmeldungen gibt es weder einen Kurt noch eine Anke.“
„Ach, Frau Kommissar ermitteln schon.“
„Hör auf. Ich finde das nicht zum Lachen. Übernehmen halt Sie, Herr Kommissar.“
Joe schaut Marlies versonnen an.
„Also, fassen wir den bisherigen Stand deiner Ermittlungen zusammen. In der Umgebung des Lawinensteins wird eine tödlich verunglückte Frau gefunden. Vermutliche Todesursache ist ein schwerer Sturz und möglicherweise anschließendes Erfrieren. Am Abend des gleichen Tages ist nur mehr ihr Galan zu sehen. Frau Anke ist vermutlich im Zimmer geblieben. Möglicherweise hat sie sich unwohl gefühlt. Dafür spricht, dass sie gestern spät zum Frühstück gekommen sind. Jedenfalls haben wir sie und diesen Kurt nicht gesehen. Ich nehme an, dass sie dann wegen ihrer Erkrankung abgereist sind. Und jetzt kommt’s. Die Gästeblätter der beiden sind nicht im Ordner.“
„Und das findest du nicht im höchsten Maße suspekt? Der Kurt sitzt am Abend des Unfalltages alleine im Speisesaal und am nächsten Tag ist auch er weg.“
„Bitte, Marlies. Ich hab’s grad zu erklären versucht. Die Polizei hat in allen Hotels und Pensionen angerufen und nach einer abgängigen Frau gefragt. Spätestens da hätte man an diese Anke gedacht. Für das fehlende Gästeblatt kann es eine einfache Erklärung geben. Der Kurt wird nichts bezahlt haben. Ein Gegengeschäft sozusagen für die Betreuung des Abrechnungssystems.“
„Ich habe die Anke aber auf dem Foto wiedererkannt.“
„Ja, aber nur du. Was sagt der Hausdiener dazu?“
„Der tut so, als würde er nichts wissen und spielt außerdem auf halbblind.“
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