Meine Mutter schnappte ein. »Das ist ja deine Sache, Vater. Immerhin, das Trauerjahr hättest du schon noch abwarten können.«
Mein Vater nickte jedoch zustimmend. »Wie alt bist du jetzt?«
»Weißt du nicht, wie alt dein Vater ist? Sollte mich nicht wundern, du vergisst ja auch unseren Hochzeitstag, kaum dass du dich der Geburtstage entsinnst.« Sie gab sich kühl, aber ich sah, dass sie innerlich bebte. Dass mein Großvater heiratete, bedeutete den Schlussstrich unter die Existenz meiner Großmutter.
»Dein Vater ist zweiundsechzig«, schloss meine Mutter.
»Danke für die Auskunft.«
»Na also«, der alte Herr stand auf, »mach uns Kaffee, Rena, und dann könnt ihr euch demnächst allein euren Sonntag versauen und euch anöden. Ohne mich.«
Er ging mit meiner Mutter hinaus, mein Vater blieb sitzen, langte nach der Zeitung und begann zu lesen. Ich machte, dass, ich wegkam.
Die Erinnerung an meinen Bruder Felix glich einer Wunde, die sich nicht schließen konnte. Wir standen an seinem Grab, meine Mutter Verena, meine Schwester Veronika und ich. Obgleich die Augustsonne das Grab meines Bruders mit Lichtbündeln überschüttete, obgleich meine Mutter sich einem ungehemmten Redefluss überließ und meine Schwester mir die Hand auf die Schulter legte, weil sie mich beruhigen wollte, versagte meine Kraft gegenüber dem Schatten.
Felix Ernst Stadel, geboren 1937, gestorben 1944 ...
»Kurz vor seinem siebenten Geburtstag«, sagte meine Mutter. »Felix war ein schönes Kind, schöner als ihr«, sie streifte uns mit einem Blick aus ihren scharfen blauen Augen und fuhr fort: »Er war sanftmütiger als ihr. Er war der Sonnenschein für uns alle. Was schlimm war, verlor seinen Schrecken - ein Engel.«
»Um Gottes willen, Mutter, hör auf«, zischte meine Schwester. Sie führte mich beiseite, wo ein Kranz lag, den sie mitgebracht hatte. Wir lösten die Schleife: Zum Gedenken an unseren Bruder Felix, Hans-Dieter und Veronika und hoben den Kranz auf. Ich sah, wie meine Mutter mit einer Harke den Hügel säuberte. Dann ging meine Schwester den schattigen Friedhofsweg entlang, um Wasser zu holen. Meine Mutter nutzte Veronikas Abwesenheit, um zu kritisieren. »Findet ihr es nicht doch etwas übertrieben, heute, nach so vielen Jahren einen solchen Aufwand um Felix zu machen?«
Eine leichte Unsicherheit in ihrer Stimme war unverkennbar. »Veronika wird mir auch von Jahr zu Jahr fremder.«
Mir rückte sie mit den Jahren näher, obschon ein großer Unterschied an Jahren zwischen uns war; und daran änderte auch die Entfernung nichts. Sie lebte in München. Wir sahen uns kaum einmal im Jahr.
Meine Schwester brachte die gefüllte Kanne, wir traten zusammen an das Grab meines Bruders, und ich fühlte ein Stechen in den Schläfen.
»Ist dir schlecht? Du 'siehst blass aus.«
Ich gab keine Antwort, wir legten den Kranz auf das Grab, Veronika goss Wasser in die trichterartigen Vasen, und ich steckte meinen und Verenas Strauß hinein.
»Was hat denn eigentlich dein Kranz gekostet, Roka?«
Gleichmütig nannte meine Schwester einen hohen Preis, und meine Mutter schnappte nach Luft. »Ich weiß wirklich nicht, ob das nötig gewesen ist. Na, ihr müsst es ja haben.«
Ich schätzte an Veronika die Ruhe, mit der sie das Gerede ertrug.
Wir griffen nach Kanne und Hacke, die der Friedhofsverwaltung gehörten, und begaben uns langsam zum Ausgang. Meine Schwester schob ihren Arm unter den unserer Mutter. Wir gingen sehr langsam. Meine Mutter blieb von Zeit zu Zeit stehen, dann blieb auch Veronika stehen. Ich dachte an den Tag, an dem sie geboren wurde ...
Meine Mutter stand im Morgenrock am Fenster. Sie bewegte sich schwerfällig, manchmal stöhnte sie leise. In der Nacht waren Bomben gefallen, wir hatten den Angriff im Luftschutzkeller unseres Hauses ganz gut überstanden. Im trüben Licht einer Notbeleuchtung schleppte sich meine Mutter nach der Entwarnung, die Hand am Geländer, die Treppen des verdunkelten Hauses hinauf. Ich war ihr mit einem kleinen Koffer gefolgt, geängstigt, nicht durch den. Nachtangriff, sondern bei dem Gedanken, meiner Mutter könnte infolge der Schwangerschaft etwas zustoßen. Mein Vater war nicht da, aber es kam hin und wieder ein junger Mann, Georg, er blieb auch über Nacht. Er sah gut aus, ein Ehrendolch baumelte am Gelenk über dem Waffenrock des Fliegeroffiziers.
Ich selber stand auf dem Sprung. Mit meinen zwölf Jahren hatte ich eine weite Reise vor, war ich weg, würde sich niemand mehr um meine Mutter kümmern.
»Hör zu, mein Junge, du musst jetzt ein Mann sein.« Wie mich das damals schon ankotzte, dieser Männlichkeitswahn Verenas, meiner Familie, aber es stimmte, ich hatte tatsächlich die Last, ein Mann zu sein, übernehmen müssen. »Ehe du was anderes machst, gehst du zur Hebamme und sagst ihr, es ist soweit. Dann gibst du dieses Telegramm an Papa auf. Vielleicht geben sie ihm Urlaub.« Sie hob den Hörer des Telefons ab, ich lauschte auf das Freizeichen, es kam keins, und sie legte resignierend den Hörer auf die Gabel. »Also versuch meine Schwester Barbara anzurufen, sie möchte herkommen.« Dann konnte meine Mutter nicht weitersprechen, sie krümmte sich und stieß einen sonderbar hellen, abgebrochenen Schrei aus, der mich traf wie ein Hieb auf den Magen.
Die Hebamme war damit beschäftigt, Bretter vor die Fenster, zu nageln, auf dem Fußboden lagen Glassplitter. Man bekam sie selten ganz aufgefegt, das Glas löste sich unter dem Druck der Detonationen in Glasstaub auf, er blieb in den Dielenritzen hängen, maserte die Möbel - man gewöhnte sich an das Knirschen unter den Schuhsohlen.
Die Hebamme, eine dicke Frau mit Brille, hatte sich ein paar Nägel zwischen die Zähne geklemmt, sie legte ein Brett an, ich hielt das andere Ende fest, und sie klopfte den Nagel ungeschickt ein.
»Wie heißt sie?«
Ich nannte unseren Namen. »Sie hat Schmerzen.«
Die Hebamme schob mich beiseite und schlug die andere Seite des Brettes fest, im Zimmer herrschte jetzt Halbdunkel, das Weiß der medizinischen Einrichtungsgegenstände glänzte kalt und fahl und flößte mir Schrecken ein.
»Sie soll sofort kommen.«
Wir gingen in die Küche, die Hebamme nahm eine Kanne vom Herd. Sie goss sich ein Zeug ein, das schwarz aussah, aber nichts mit Kaffee zu tun hatte. Dann brach sie ein Stück Weißbrot ab, schob es in den Mund und trank von dem schwarzen Zeug.
»Habt ihr eure Fenster heute Nacht behalten?«
Ich nickte, bei uns waren die Glasfenster drin geblieben. »Ich halte mich an Bretter. Fliegen sie raus, habe ich sie mit ein paar Nägeln wieder dran.«
Ich saß wie auf Kohlen, aber ich traute mich nicht, sie anzutreiben. Sie redete mit mir, als hätte sie einen Erwachsenen, einen mit allen Fragen einer Geburt Vertrauten vor sich.
»Keine Sorge, das Kind liegt ganz normal. Es ist ihr Drittes. Ich hab euch beide geholt.« Sie schluckte. »Wo ist dein Vater?«
»Im Krieg, aber kein Soldat.«
»Ach ja, dein Vater ist ja was Technisches.« Sie wischte sich den Mund und lehnte sich zurück; dann rauchte sie.
»Donnerwetter, wollen Sie nun endlich kommen!«
Sie lachte, rauchte weiter und schüttelte mehrmals den Kopf. Ich sagte nichts mehr, ich stand auf und ging zur Tür.
»Warte doch«, sagte sie, »du musst mir doch helfen.«
Wir packten ihre Sachen ein, verschiedene blitzende Instrumente, deren Aussehen nichts über ihren Gebrauch verriet.
Unterwegs - ich trug ihre Sachen, sie half sich mit einem Stock weiter - sagte ich, dass ich meiner Tante telefonieren müsse, sonst wäre niemand als Hilfe im Hause.
Die Hebamme schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät.«
Ich schloss die Wohnungstür auf und führte die Hebamme ins Schlafzimmer meiner Eltern. Meine Mutter saß mehr auf dem Bett, als dass sie lag. Das Haar klebte ihr feucht am Kopf. Die Hebamme erschrak. »Los, setz Wasser auf, schnell, viel Wasser.«
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