Über Bordfunk gibt er durch: „MG-Nest auf 12 Uhr. Sprenggranate.”
Der Richtschütze antwortet: „Ziel erkannt!”
Längst hat Knispel eine Sprenggranate geladen.
Der Kommandant ruft: „Feuer frei!”
Die Flugbahn der 7,5-Zentimeter-Granate kann man sogar mit dem bloßen Auge verfolgen. Kommandant und Richtschütze sehen, wie die russische MG-Stellung im Fenster eines Gebäudes in die Luft fliegt. Liegen bleiben, im Staub der Steine, die zerschlagenen Gebeine. Durch Blumenbeete walzen sich die Panzer ihren Weg. Eine Brauerei wird erobert, Bier erbeutet und der Sieg tüchtig begossen. Bis zum 29. April 1945 soll Kurt Knispel 168 Feindpanzer abgeschossen haben. Mehr als jeder andere. Dann trifft der Gegner seinen „Tiger“. Der Panzer explodiert, die Besatzung stirbt.
Komplettiert wird der Fall von Minsk durch Generalleutnant Stumpffs 20. Panzerdivision. In einem Spähwagen der Aufklärungsabteilung fährt Götz Hirt-Reger 36. Der blonde Jüngling führt eine Besonderheit mit: eine Filmkamera plus Farbfilme. Damit gelingen dem Funkaufklärer einmalige Aufnahmen vom Vormarsch der Panzergruppe 3. Hirt-Reger filmt die Gefangenen in ihren braunen Uniformen, die staubigen Rollbahnen, die strohgedeckten Holzhäuser, die Fliegerangriffe, die Brände und Rauchwolken am Horizont, die Ziehbrunnen in den Dörfern, die weißen Kirchen mit den Zwiebeltürmen, die barfüßigen Bäuerinnen mit ihren weißen Kopftüchern sowie einen Bauern, der sein Feld bestellt – vorneweg das Pferd, dahinter der Pflug gespannt, den der Landwirt lenkt. Man sieht die Gräber der Gefallenen; nur die von der Aufklärungsabteilung, aber es sind schon verdammt viele. Man sieht Kameraden während einer Marschpause im Gras liegen. Sie schreiben Briefe an ihre Angehörigen. Ein junger, dunkelblonder Mann lacht, winkt ab, will wohl nicht von Hirt-Reger gefilmt werden. Er trägt nur eine schwarze Unterhose und um den Hals die Erkennungsmarke. Der Träger wird das letzte Mal gefilmt, seine Marke wenig später gebrochen. Gefallen. Ein Schicksal, das auch den zweiten Briefeschreiber, den Hirt-Reger an diesem sonnigen Sommertag vor die Linse bekommt, ereilen soll. Durch die Farbaufnahmen wirken die Bilder beklemmend nah.
Angesichts der Erfolge im Kampfraum Wilna-Grodno am Nordflügel der Heeresgruppe schreibt Hans-Joachim S. 37, Kriegs-Offiziers-Bewerber (KOB) vom Armee-Nachrichten-Regiment 511, am 26. Juli in einem Feldpostbrief an seine Frau:
„Der Vormarsch geht weiter – Richtungswechsel! Hauptmann stellt fest, dass dieser Vormarsch den in Frankreich in den Schatten stellt. Ungeheure Materialmengen rollen – gestern 100 km lange Kolonne überholt. Dazwischen immer noch heimtückische Überfälle durch Russen. Werden sofort erschossen – liegen haufenweise im Straßengraben. Russische Bomber werden am laufenden Band durch Jäger abgeschossen. Kaum ein Bomber, der einfliegt, kehrt zurück. Vorgestern beschoss ein frecher Hund Helmuth’s Wagen – kam auf 50 m herunter. Stimmung ganz groß! Requirierten Seife, Tee, Butter, Eier, Hühner, schlafen nur unter freiem Himmel, bezw. im PKW. Das Wetter ist drückend heiß. Staub – Staub – Staub. So wird unser Leben nun wochenlang weitergehen. Eben kommt ein Kamerad mit Krad an, der 3 Tage verlorengegangen war. Hat uns endlich wiedergefunden. Ich bin jedenfalls glücklich, dabei sein zu können, bei dem größten Feldzug der Weltgeschichte.“
Am 27. Juni reichen sich die 20. und 17. Panzerdivision bei Minsk die Hand. Der Hammer ist auf den Amboss getroffen, die Russen sitzen in der Falle. Vier Armeen sind im teils sumpfigen Waldgelände eingekesselt. Und Soldaten, denen der Nachschub an Verpflegung und Munition abgeschnitten wird, beflügelt nur noch ein Gedanke: Mit aller Macht raus aus dem Kessel und wieder Anschluss an die eigenen Linien finden! Das bedeutet für die deutschen Kämpfer, die den Ring um die Eingeschlossenen dichthalten, dass sie die Massenausbrüche abwehren müssen. Bis dem Gegner das sogenannte Menschenmaterial ausgeht.
*
Alarm am Südrand des Kessels, beiderseits des Städtchens Zelwa: Die Russen kommen! In mehreren Reihen hintereinander stapfen sie aus dem dichten Wald heran. Ihre überlangen Bajonette hoch über die Köpfe ragend. Das Gewehr und die dreikantige Klinge messen zusammen 175 Zentimeter. Nahkampf wird in der Roten Armee großgeschrieben, Bajonettieren in der Ausbildung auf die Spitze getrieben. Die Soldaten brüllen „Urräh!” – das Gegenstück zum deutschen Hurra-Ruf, um sich selbst Mut und dem Feind Angst zu machen. Die angegriffenen Männer der 29. motorisierten Infanteriedivision warten fieberhaft auf den Feuerbefehl. Alles reine Nervensache, aber nur schwer auszuhalten. Eine verdammte Angst spüren sie alle. Nur nicht durchdrehen! Erfahrene Krieger wissen: Je später das Feuer eröffnet wird, umso vernichtender die Wirkung. Die breiten Ketten der russischen Leiber, ganze Bataillone – 500, 1.000 und mehr Soldaten – laufen direkt vor die Läufe der MG und die Rohre der Artillerie. Da bei den chaotischen Kesselkämpfen kein klarer Frontverlauf zu erkennen ist, bedienen sich die Kanoniere der 8. und 9. Batterie/Artillerieregiment 29 der ziemlich kurios anmutenden Taktik des „Rohrsalats“. 38Dazu werden die Feldhaubitzen wechselweise nach vorne und hinten ausgerichtet, um gegebenenfalls in alle Richtungen wirken zu können.
Schon sind die Gesichter der Russen zu erkennen. Da hebt Hauptmann Schmidt 39, Kommandeur des I. Bataillons vom Infanterieregiment 15, den Arm und brüllt:
„Feuer!”
Für die Männer kommt der Befehl wie eine Erlösung. Endlich den Abzug durchziehen zu dürfen, um damit nicht nur den Gegnern das Leben, sondern sich selbst auch die schreckliche Todesangst zu nehmen. Heftiges Sperrfeuer aus allen Rohren schlägt in die stürmenden Sowjets. Die deutschen Schützen schießen mit dem Karabiner Punktfeuer auf einzelne Gegner, das MG-Bataillon 5 Salven auf ganze Gruppen und die Kanoniere an den Infanteriegeschützen Lagen von Granaten auf die zusammengeballten Menschenknäuel. Es wirkt. Bringt Tod. In Massen.
Wieder orgelt eine Lage der Infanteriegeschütze heran. Dieses deutsche Spezialrohr gibt es als leichte und schwere Ausführung. Infanteriegeschütze sind den Regimentern als direkte artilleristische Unterstützung zugeteilt. Mit den relativ kurzen Rohren kann sowohl Flach- als auch Steilfeuer auf Entfernungen von 800 bis gut 3.000 Metern geschossen werden. Das leichte Infanteriegeschütz 18 bringt 7,5-Zentimeter-Granaten ins Ziel. Daneben heulen und rauschen die 38 Kilogramm schweren Geschosse vom Kaliber 15 Zentimeter in die erkannten russischen Bereitstellungen. Beide Infanteriegeschütze, das leichte wie das schwere, gelten als sehr wirkungsvolle Präzisionswaffen. Nichts fürchten die ziemlich unempfindlichen Russen jedoch mehr, als die schnell schießenden deutschen Maschinengewehre, die wie eine Sichel Reihe um Reihe der erdbraun Uniformierten niedermähen. Abgesehen von der Artillerie hat vermutlich keine deutsche Waffe im Osten einen höheren Blutzoll gefordert. Wer in Russland als Schütze 1 am Maschinengewehr Gurt um Gurt verschießt und Feind auf Feind zersägt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Massentöter. Wenn er denn selbst lang genug durchhält, was angesichts des oft konzentrierten Abwehrfeuers auf seine Stellung eher zweifelhaft ist. Bei Zelwa sind es allerdings in erster Linie Rotarmisten, die im deutschen MG-Feuer fallen.
Wenn die furchtbaren Ereignisse am „Omaha-Beach“, die sich im Rahmen der alliierten Invasion an jenem legendären Strand der Normandie abspielten, vielfach als einzigartig dargestellt werden, so ist das nur ein Teil der Wahrheit. Damals, am 6. Juni 1944, verbluteten Tausende US-Soldaten am Strand von „Bloody Omaha“. Die meisten davon soll der deutsche MG-Schütze Hein Severloh niedergestreckt haben. Ein einzelner Mann. Mit seinem MG 42 und zwei Karabinern. Ein böser Wolf, wie im Märchen. Als ob die anderen Kameraden der 352. Infanteriedivision mit ihren Karabinern, Maschinengewehren und Geschützen nicht schossen und trafen! Die „Bestie von Omaha-Beach“ wird zwar schlimm genug gewütet haben, die Legendenschreiber aber nicht minder. Bei insgesamt 2.374 Gefallenen des V. US-Korps am 6. Juni kann Severloh nicht bis zu 3.000 GI‘s auf dem Gewissen haben! Und im hohen Alter von 80 Jahren behauptete der ehemalige Gefreite aus Metzingen in einer TV-Reportage 40über sich, der deutsche Soldat gewesen zu sein, der die meisten Gegner tötete. Das mag wohl stimmen – wenn sich die Aussage allein auf die Westfront bezieht.
Читать дальше