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Trotz der enormen Kampfkraft müssen die Tanks mit dem Balkenkreuz noch bis zum 29. Juni auf die ablösende Infanterie warten. Erst dann kann Guderian einige schnelle Verbände aus der Kesselfront lösen und für den weiteren Angriff nach Osten bereitstellen. Das nächste Hindernis, das es zu überwinden gilt, ist die mächtige Beresina. Hier erlitt Napoleons Grande Armée im November 1812 eine historische Niederlage. Kein Zweifel, dass auch Generalleutnant Jeremenko, der den glücklosen Pawlow als Oberbefehlshaber der Westfront abgelöst hat, den Fluss zum Point of no return für die Wehrmacht machen will.
An den Ufern des Birkenflusses, wie die Beresina übersetzt heißt, sollen die großdeutschen Blitzkrieger verbluten.
„Die Deutschen sind am Fluss zum Stehen zu bringen”, lautet der eiserne Befehl Jeremenkos. An der Beresina soll der Fleischwolf rücksichtslos gedreht werden. Nach der Schlacht dürfen bei den Deutschen keine Ritterkreuze mehr umgehängt, sondern nur noch Birkenkreuze aufgestellt werden! Aber eiserne Befehle stoppen noch keine stählernen Kolosse. Und Generalmajor Walther Nehrings 18. Panzerdivision schlägt blitzschnell zu. Bereits am Mittag des 1. Juli stehen die Kampfwagen in Sichtweite der Beresina. Gerade mal anderthalb Tage haben Nehrings Panzer gebraucht, um das etwa 100 Kilometer entfernte Angriffsziel zu forcieren.
Aber das Erreichen der Flussbarriere ist nur die eine Seite der Medaille, das Übersetzen die andere. Bei Borissow halten Jeremenkos Regimenter noch einen starken Brückenkopf am Westufer. Die Bataillone vom Schützenregiment 52 fechten sich gegen verbissenen Widerstand vorwärts. Als die 10. Kompanie „durch” ist, rechnen die Stoßtrupps jeden Augenblick mit der Sprengung der Brücke. Aber der Russe scheint aus den ersten Kriegswochen wenig gelernt zu haben. Das rote Sprengkommando zögert, nicht aber der Unteroffizier Bukatschek 49vom ersten Zug. Seine entschlossenen Männer setzen die beiden MG-Stellungen am Brückenaufgang außer Gefecht, keuchen im Laufschritt hinüber ans Ostufer und nehmen den russischen Sprengmeister, einen Leutnant, gefangen. Bukatschek erleidet bei dem Sturmangriff zwar einen Schulterschuss. Aber wenigstens muss man für ihn kein Birkenkreuz am Birkenfluss aufstellen. Andere Kameraden haben weniger Glück. Am nächsten Morgen verursachen russische Panzer- und Infanterieangriffe sowie vor allem Scharfschützen lange Gefallenenlisten. Jeremenkos Truppen sorgen zwar für zahlreiche Birkenkreuze auf deutscher Seite. Aber es sind nicht genug, um Guderians Panzersturm zu stoppen – zumal die Russen selbst weit höhere Verluste erleiden.
24 Stunden später kommt schon die nächste Hiobsbotschaft für Jeremenko: Am 2. Juli bildet General Freiherr Geyr von Schweppenburgs XXIV. Panzerkorps 130 Kilometer südlich von Borissow, bei Bobruisk, einen zweiten Brückenkopf am Ostufer. Beide Panzerdivisionen, die 3. und die 4., haben schon übergesetzt. Die sowjetische Front an der Beresina ist damit aus den Angeln gehoben. Dennoch kämpfen viele russische Soldaten bis zur letzten Patrone. Sie lassen sich in ihren längst ausmanövrierten Stellungen zerfetzen, erschlagen, verbrennen, erstechen, statt rechtzeitig die Waffen zu strecken. Diese Sturheit, das Verweigern der Kapitulation trotz aussichtsloser Lage, wird mehr und mehr zum großen Albtraum der deutschen Führung. Den Russen geht es bei ihrer „Opfer-Strategie“ vor allem darum, Zeit zu gewinnen. Jeder Tag zählt, um rückwärtige Stellungen auszubauen und mit den Reserven der zweiten strategischen Staffel zu besetzen. Dieser Aufschub wird mit dem Leben der gegnerischen und eigenen Soldaten erkauft. Wer mehr Menschenmaterial hat, verblutet eben auch entsprechend langsamer. Und die riesige Sowjetunion mit ihren rund 190 Millionen Einwohnern kann noch über zehn Millionen Soldaten östlich des Dnjepr zum Schlachten führen. Wenn genug Zeit bleibt.
Bereit, jedes Opfer für ihren Führer zu bringen, sind allerdings auch die Männer der motorisierten Waffen-SS-Division „Reich”. Gruppenführer 50Haussers Eliteverband gehört zum XXXXVI. Panzerkorps und soll zwischen den Brennpunkten Borissow und Bobruisk die Beresina bezwingen. Damit betritt an der Front der Heeresgruppe Mitte ein neuer Typ Kämpfer das Schlachtfeld. Der ist zwar nicht zu verwechseln mit den Mördern der Einsatzgruppen, aber ebenso wenig mit den Männern der Wehrmacht gleichzustellen. Nach dem Krieg gilt die unter der Achsel eintätowierte Blutgruppe als Kainsmal, kennzeichnet sie doch die Zugehörigkeit zur vermeintlichen Verbrechertruppe. Sicher ist, dass es bei der Waffen-SS viele überzeugte Weltanschauungskrieger gibt, die sich auch eher zu Brutalitäten hinreißen lassen als die Kameraden des Heeres. Vor allem Rotarmisten, aber auch Zivilisten, insbesondere der jüdische Teil, bekommen die Härte der Waffen-SS mancherorts zu spüren. 51Der Kommandeur der 10. SS-Panzerdivision „Frundsberg“, SS-Brigadeführer Karl von Treuenfeld, macht aus der gewünschten Einstellung seiner Truppe keinen Hehl. Bezeichnend sein Appell aus dem Jahre 1943: „Durch die Vorträge über unsere Gegner, soll jeder Mann zu einem fanatischen Hasser erzogen werden [...] Es ist ganz gleich, an welcher Front unsere Division zum Einsatz kommen wird: der unbändige Haß gegen jeden Gegner, sei er Engländer, Amerikaner, Jude oder Bolschewist, muß jeden unserer Männer zu höchsten Taten befähigen.“ 52
Andererseits ist das von vielen ehemaligen Waffen-SS-Angehörigen zur Verteidigung angeführte Alibi, dass sie „Soldaten wie andere auch” gewesen seien, gar nicht so abwegig. Die „anderen“, damit sind die Soldaten der Wehrmacht gemeint. Aber haben sich jene auch „anders“ verhalten? Speziell an der Ostfront versündigt sich das vermeintlich saubere Heer ebenfalls unverhältnismäßig oft am Gedanken einer halbwegs zivilisierten Kriegführung. Zwar sollen die Soldaten der Waffen-SS noch schlimmer gewütet haben. Aber in Wahrheit stehen ihnen die Kameraden der Wehrmacht viel näher, als es diese, vor allem ihre Generale, nach dem Krieg wahrhaben wollen. Der kämpfende Kern der Waffen-SS, die Divisionen „Reich“, „Totenkopf“, „Wiking“ und die Brigade „Leibstandarte“, hat in seinen Reihen in erster und vorderster Linie Krieger töten und nicht Kriegsverbrecher morden gesehen. Verbrecher und Schuldige gibt es in jeder Einheit, aber ebenso die Anständigen und Ahnungslosen. In ihren Reihen steht gegen Ende des Krieges auch ein gewisser Günter Grass.
Die Waffen-SS lässt sich ebenso wenig pauschal verurteilen wie die Wehrmacht. Und doch trägt sie als der Orden unter dem Totenkopf die schwerere Bürde. Die schwarze Garde ist nach Hitlers Willen nicht allein sein oder gar Himmlers langer Arm an der Front. Sie kann bei Bedarf auch im Innern des Reiches brutal zuschlagen. Die eiskalte Ermordung der SA-Führer um den vermeintlichen Putschisten Röhm, 1934 durchgeführt von der SS-VT (Verfügungstruppe), dem Vorläufer der Waffen-SS, hat das ganze ruchlose Potential drastisch aufgezeigt. Und Hitlers Durchgreifen beeindruckte selbst den grausamen Stalin, der darüber ausgerufen haben soll:
„Das ist schon ein ganzer Kerl! Großartig! Der kann etwas!“ 53
Sepp Dietrichs „Leibstandarte“, im Sommer 1941 im Verband der Heeresgruppe Süd angetreten, war ebenso an den Erschießungen jener blutigen Julitage beteiligt wie der berüchtigte Theodor Eicke. Der Kommandeur der SS-Totenkopf-Division, die auf Leningrad vorstößt, soll Röhm höchstselbst am Mittag des 1. Juli 1934 mit zwei Pistolenkugeln niedergestreckt haben.
Nicht minder bemerkenswert bleibt die ebenso einmalige, legendäre Kampfkraft der Sigrunen-Krieger. Hitlers härteste Truppe, teils in buntscheckigen Tarnjacken, wird an allen Fronten gefürchtet und gehasst wie kein anderer Gegner. Der Waffen-SS-Mann gibt den Tod – und nimmt ihn. 54Das wurde ihm als Gebot der Ehre auf den Junkerschulen eingetrichtert. Eine Mentalität, die für rücksichtslosen Offensivgeist und hohe Opferbereitschaft steht. Kollidiert eine solch fanatische Elite mit den „sturen“ Iwans sind schreckliche Kämpfe vorprogrammiert. Da die Sowjets SS-Angehörige nach der Gefangennahme erst recht erschießen und die Deutschen wiederum auf harte Vergeltung drängen, will in der brodelnden Atmosphäre aus Hass und Gewalt niemand lebend in die Hände des Gegners fallen. Und wo Aufgabe keine Alternative mehr ist, da wird nicht selten bis zum letzten Blutstropfen gerungen.
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