Das Los der Gefangenen stellt im Vernichtungskrieg der Weltanschauungen allerdings insgesamt ein düsteres Kapitel dar. 1941 überlebt nur eine erschreckend kleine Minderheit. Noch bis zum Frühjahr 1943 liegt die Sterbequote der gefangenen Landser bei ungeheuren 95 Prozent. Der Russlandkämpfer, ob Iwan oder Fritz, ist nicht zuletzt deshalb „tapfer“, weil die Konsequenzen einer Aufgabe lange Zeit tatsächlich gefährlicher sind, als der Versuch, an der Front zu überleben. Während die Russen den Großteil der Gefangenen töten, lassen ihn die Deutschen an Seuchen verrecken und verhungern, vornehmlich im Herbst und Winter 1941/42.
*
„Hier, Schokolade, für dich”, ruft der Bataillonskoch Ewald dem Kradschützen Helmut Günther 55, Jahrgang 1919, von der SS-Reich zu. Für die motorisierte Division steht der erste schwere Waffengang im Ostfeldzug unmittelbar bevor. An der Beresina soll Haussers Elite, die im Verband des XXXXVI. Panzerkorps stürmt, auf starken Feind treffen. Kilometer um Kilometer fährt Günther mit seinem Motorrad auf tiefen Sandwegen der Front entgegen. Auf einem Hügel stellt der SS-Mann den Motor ab und horcht angestrengt nach Osten. Da, kein Zweifel – Gefechtslärm! Günther unterscheidet klar das rasende Rattern der deutschen MG 34 und das schwerfällige Tackern der russischen Maxim. Der Puls pocht. Blitzartig wird die Maschine wieder angetreten, und ab geht die Fahrt. Günther rattert in ein Dorf. Topoy heißt das Nest. Hinter den Hütten erkennt man das blaue Band eines Flusses. Das muss sie sein, die Beresina. Das Ziel der Kradschützen. Und da müssen sie rüber. Aber zum Denken bleibt kaum Zeit, es knallt bereits heftig. Sicher ist jedenfalls, dass der Feind das Dorf am Westufer verbissen verteidigen will.
Beinahe fährt Günther dem resoluten Bataillonschef, Hauptsturmführer Klingenberg, über die Füße. Klingenberg! Jener Teufelskerl, der im Frühjahr, während des Balkanfeldzugs, die jugoslawische Hauptstadt Belgrad quasi im Alleingang zur Kapitulation zwang. Ein verdammt harter Hund, aber wenigstens ein mutiger.
„Sie verrückter Heini, was wollen Sie hier?”, bellt Klingenberg den verschreckten Kradschützen an.
„Fahren Sie zurück und holen Sie die Pak!”, schreit auch noch der Bataillonsadjutant von der anderen Straßenseite herüber. Nichts wie weg, denkt sich Günther – fast fürchtet er den eigenen Kommandeur mehr als den russischen Gegner. Mit Vollgas rast der Kradschütze den Weg zurück. Weit muss er nicht fahren, da sieht er schon die Panzerabwehrgeschütze vom Pak-Zug der 5. Kompanie. Hinter einem großen Haus stehen die Kanonen. Günther überbringt den Befehl an einen Oberscharführer. Und schon rollt ein Geschütz, gezogen von einer Zugmaschine, Richtung Hauptkampflinie.
Als der Pak-Bedienung die ersten Kugeln um die Ohren fliegen, stoppt der Fahrer. Jetzt zeigt sich die erstklassige Ausbildung der Männer. Unter Feindbeschuss wird die Kanone blitzschnell „abgeprotzt“, das heißt, feuerbereit gemacht. Die tausendmal geübten Handgriffe sitzen wie im Manöver. Augenblicke später schlagen die 5-Zentimeter-Sprenggranaten in die feindbesetzten Häuser. Die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten. Einige Russen ergeben sich. Dieser Teil des Dorfes ist bald erobert. Das Zentrum von Topoy liegt jedoch etwas tiefer. Davor steht ein kleines Wäldchen. Erneut ist die Pak-Mannschaft wie der Teufel heran und nimmt auch hier die Häuser unter Beschuss. Begeistert verfolgen Günther und sein Kamerad Willi das Feuerwerk der Vernichtung. Doch plötzlich wirft der Richtschütze die Arme hoch – getroffen! Aber Einzelverluste stoppen nicht den Krieg und erst recht nicht das Feuer einer Pak-Bedienung der Waffen-SS! Schnell ist ein Ersatzmann gefunden und richtet neue Ziele an. Ein, zwei, drei, vier Granaten werden durch das Rohr getrieben. Da trifft es auch diesen Richtschützen. Jetzt nimmt der Oberscharführer selbst den Platz am Visier ein. Und es ist nicht zu fassen: Auch ihn erwischt es!
Noch bevor Günther nachvollziehen kann, woher das unheimlich präzise Gewehrfeuer kommt, kracht neben ihm ein Karabinerschuss. Kamerad Willi hat die Lage am schnellsten gepeilt und den russischen Scharfschützen aufs Korn und aus dem Leben genommen. Günther beobachtet, wie ein Rotarmist mit Zielfernrohrgewehr aus der vorgelagerten Baumgruppe zu Boden stürzt.
„Hund verdammter, dich habe ich!”, ruft Willi erregt.
Unterdessen tobt der Kampf um Topoy weiter. Der lange Hauptsturmführer Klingenberg steht keine fünf Meter von Günther entfernt. Sein Ritterkreuz, einer der höchsten deutschen Orden, blitzt in der Sonne. Eiskalt und scheinbar unbeeindruckt vom Abwehrfeuer, gibt Klingenberg, dieser geborene Krieger, der am 22. März 1945 an der Westfront in vorderster Linie fällt, Einsatzbefehle. Weitere Panzerabwehrgeschütze und -spähwagen werden nach vorn kommandiert. Es knallt und kracht an allen Ecken. Beißender Rauch, brüllendes Vieh, schreiende Menschen – aber die Soldaten stürmen, auch Günther. Er sieht furchtbare, gespenstische Szenen. Nimmt einen Kameraden wahr, der am Zaun gegenüber zu schlafen scheint, allerdings für immer – ihn hat die ewige Ruhe längst befallen. Gefallen. Vielleicht wird heute auf einem alten, verwitterten Grabstein seines Heimatfriedhofs oder einem Kriegerdenkmal die Inschrift stehen: † 3.7.1941 Gefallen in Russland
Gewiss längst verfallen wird sein Birkenkreuz am Birkenfluss sein. Von den Siegern eingeebnet auch das Grab, in dem die Gebeine liegen. Aber die Soldaten der Schutzstaffel meißeln sich Schlag auf Schlag in die Tafeln der Kriegsgeschichte, um es mit den Worten des brillanten Heinz Höhne, Autor des Standardwerks „Der Orden unter dem Totenkopf”, zu sagen. Schlacht auf Schlacht setzt sich Hitlers Gardetruppe ein unsichtbares, aber unerschütterliches Denkmal in Sachen Kampfkraft und Korpsgeist. Die SS-Männer, die den Sturm auf Topoy an der Beresina mit ihrem Leben bezahlt haben, legen mit ihren Knochen eines der frühen Fundamente. Bereits fünf Wochen nach Beginn des großen Germanenzuges sind annähernd 8.000 Sigrunenkrieger gefallen oder verwundet. Kein Marmor, nur die Brandspuren im Osten zeugen vom Töten und Sterben der neuzeitlichen Spartaner.
Mit dem Beresina-Übergang aus der Bewegung ist auch der Grundstein für den schnellen Weiterstoß zum Dnjepr gelegt, um nach dem ersten großen operativen Ziel des Feldzuges zu greifen: Smolensk. Aber während Heinz Guderian sofort antreten und übersetzen will, favorisiert sein Vorgesetzter, Feldmarschall Hans-Günther von Kluge, genannt der „kluge Hans“, die konservative Lösung, nämlich das Aufschließen der Infanterie abzuwarten. Das würde jedoch für die Panzer eine zweiwöchige Zwangspause bedeuten, was nicht wirklich clever dünkt. Der „schnelle Heinz” scheint das bessere Gespür für den nächsten Zug zu haben. Dass überhaupt der 57-jährige Kluge als bisheriger Oberbefehlshaber der 4. Armee zwischenzeitlich die Panzergruppen 2 und 3 unter dem neugebildeten Kommando der 4. Panzerarmee führt, erscheint bemerkenswert. Ein wichtiger Aspekt, der ein bezeichnendes Licht auf die falsch gesetzten Prioritäten im deutschen Oberkommando wirft.
Ungeachtet der überragenden, schlachtentscheidenden Bedeutung, die die Panzerverbände spätestens seit dem Frankreichfeldzug erworben haben, degradiert die oberste Führung Guderian und Hoth praktisch zu bloßen Befehlsempfängern Kluges – eines Vertreters der Infanterie. Das kann man fast schon als Affront gegen die hoch bewährten Fachleute der schnellen Truppen werten. Dabei liegt der Status einer Panzergruppe und seiner Kommandeure ohnehin schon unter dem Level einer Armee und ihrer Oberbefehlshaber. Die genau umgekehrte Struktur wäre im Sinne der Blitzstrategie förderlicher gewesen. Die Panzergruppen hätten in den Status von Panzerarmeen erhoben und die Infanterie den schnellen Verbänden bei Bedarf unterstellt werden müssen. Napoleons Weisheit, dass ein schlechter General besser als zwei gute ist, greift diesmal jedenfalls nicht.
Читать дальше