1 ...6 7 8 10 11 12 ...43 „Laß mir loofen, Rieke, dies eene Mal noch! Ick will ooch jewiß nich wieda ...“ bettelte der Bursche.
„Natürlich willste wieda! Aba hau ab, Jott sei Dank biste nich mein Sohn. Ich brächte dir zurecht, ick sare dir –!“ Und das kleine Wesen funkelte den langen Bengel so gefährlich an, dass er mit einem verlegenen Grinsen einen Schritt zurück trat. Gleich nutzte er die Gelegenheit und stürzte fort ins Dunkel. Sie sahen ihm alle drei einen Augenblick schweigend nach.
„Na ja, der Fritze Krull!“ sagte Rieke dann. „Weg mit Schaden! Den schnappen se ooch ohne uns. – So, Karl, und det is der Ernst, von dem ick dir berichtet habe, Ernst Bremer, wat? Det is der Bäcker, een juter Junge, wie ick dir gesagt habe, bloß zu leicht. Hinter alle kleenen Mädchen her.“
Der Bäcker Ernst Bremer, der einen so weißen Teint hatte, als sei er mit Weizenmehl bestreut, lachte recht geschmeichelt: „Det jloobe ihr nich, Karl“, sagte er und gab dem Jungen die Hand. „So fett fiddelt Voß nich. Ha' ick dir schon süße Oogen gemacht, Rieke?“
„Na, weeßte!“ antwortete Rieke im höchsten Ton. „Det wollte ick mir ooch sehr vabeten haben! Det wäre woll dein letzter Tag jewesen, wo de 'ne heile Fassage rumjetragen hast. – Und nu faß den Korb an, Karl. Ick dachte eijentlich, der Ernst soll de Körbe tragen, aba dir laß ick nich wieda alleene uff de Straße. Du musst Berlin erst bessa kennenlernen. Det war 'ne Lehre wie 'ne Ohrfeige for dir.“
„Wir können ja beide die Körbe rauftragen, und du paßt auf“, schlug Karl Siebrecht, doch wieder sehr beschämt, vor.
„Na ja, wenn ihr det wollt, denn mal los! Ick reiße mir nich darum.“
Es ging über zwei, drei dunkle Höfe, einer schien immer enger, riechender, trostloser als der andere. Karl schauderte. Dann ging es eine enge Treppe hoch, eine so vertretene, beschmutzte Treppe mit so scheußlicher Luft, dass es unbegreiflich schien, wie die offene, zungenförmige blaue Gasflamme in dieser Luft überhaupt brennen konnte. Türen über Türen, Gänge über Gänge, Lärm, Sprechen, Poltern, Töpfegeklapper. Frauen, die schweigend und, wie es Karl Siebrecht vorkam, mit feindlichen Augen den Korb an sich vorbeiließen. Immer höher hinauf, immer höher. Und die Luft wurde immer schlimmer. „Wollen wa nich mal vapusten?“ fragte der Bäcker. „Du bist det ja nich jewohnt!“
„Nein, laß man, es geht schon. Ist hier immer so schlechte Luft?“
„Ach, du meenst den Mief? Ja, det mieft hier immer, so'n Mief hält warm im Winta. Der hilft Preßkohlen sparen.“ Und wieder schüttelte es Karl Siebrecht.
„Da sind wa“, sagte der Bäcker und stieß mit der Schulter eine Tür auf, die nur angelehnt gewesen war. „Wa stellen den Korb nur ab, det die Rieke nich zu lange alleene is.“
Karl konnte nur einen hastigen Blick in eine von einem Petroleumblaker schwach erhellte Küche tun. Gottlob, hier sah es sauber aus, und es roch auch nicht so schlimm wie draußen. Aus einer Stube drang ärgerliches Brummen. „Det war der Olle“, erklärte der Bäcker, als sie wieder die Treppe hinabstiegen. „Der is ungnädig, die Rieke hat ihm schon 'ne Predigt vapaßt, aber aus der Mulle hat se ihn ooch nich gekriegt.“
Noch dreimal mussten die Jungen mit den Körben die Treppen hoch, denn Rieke hatte angeordnet, dass auch Karls Körbe zu ihr kämen. „Du kriegst nur, wat de brauchst, det kannste dir alle Tage von mir holen. Uff dir muss man uffpassen. Nich, dass ick deine Schlummamutta mißtraue, die Brommen is janz ordentlich, aber mit dir weeß man ja nich –“ Und Karl Siebrecht protestierte nicht.
Beim letztenmal blieb der Bäcker oben, als Wachtposten. „Dat du den Ollen nich ranlässt! Die Körbe pack ick alleene aus, Ernst! Und wir sind ooch schnell wieda da, wir müssen bloß die Karre abliefern, is ja nich weit bis in de Müllerstraße. Und die Karre is leer.“
7. Der alte Busch
„Setz dich doch auf die Karre“, sagte Karl zu Rieke.
„Nee, ick zieh bei dir. Is zu kalt zu's Sitzen. Is dir ooch kalt, Karl?“
„Ein bißchen.“
„Na, laß man, det jibt sich. Uff'n Heimweg hol ick jleich eenen Eimer Kohlen, sollst mal sehen, wie warm wa det noch kriejen. Ick hatt'n janz schönen Vorrat liejen, als ick zu Tante Bertha machte, aba der Olle hat allet wegjefeuert. Der kennt keene Einteilung, Männer sind so.“
„Er wollte wohl bei den Körben nicht anfassen?“
„Laß ihn. Det is sein schlechtet Jewissen, denn is er grade pampig, grade aus' schlechtet Jewissen. Der besinnt sich. Paß uff, wenn wa jetzt heeme kommen, weeß er nich, wat er mir zuliebe tun soll. Schlecht is er nich, da jibt's janz andere! Und überhaupt –“ Sie schwieg gedankenvoll.
„Was meinst du mit: und überhaupt?“
„Wat ick damit meine? Na ja, früher war er janz ordentlich, aba er hat sich det mit Mutta'n doch so zu Herzen jenommen, seitdem is er so.“
„Seit deine Mutter gestorben ist?“
„So kann man det ooch sagen. Aba de Wahrheit is, er hat Mutta'n doch rausgeschmissen, weil sie mit 'nem anderen Kerl jing. Tilda is ja nich von Vata'n, aba er lässt det Kind det nicht entjelten, allet, wat recht is. Und denn hat der Kaschube Mutta'n sitzenlassen, und Mutta is wieda jekommen bei uns, da war se schon in der Hoffnung. Na, Vata hat ihr nischt in den Weg jelegt, aba er hat nie wieda een Wort mit die Frau jeredet, ooch, als se alle machte, und det reut ihm nu. Darum säuft er, aba nur manchmal.“
Der Junge, Karl Siebrecht, schwieg überwältigt. Ihn packte die nüchterne, klagelose Selbstverständlichkeit, mit der die dreizehnjährige Rieke Busch von dem allem redete. „Und das trägst du alles so selbstverständlich, Rieke?“ rief er und legte seine Hand auf der Stange des Karrens sachte über die kleine verarbeitete Kinderhand.
„Wat denn sonst? Wat soll ick denn dabei tun? Det is doch so! Da kann keener wat bei machen! Bloß det eene sare ick dir, Karl: mir soll keener nischt von der Liebe erzählen. Die richt' bloß Unfug an. Wie der Ernst vorhin anfing – na ja, det wissen se alle, ick bin kalt wie 'n Eiszappen!“
„Aber du bist doch auch noch nicht vierzehn, Rieke!“ rief Karl Siebrecht.
„Na wat denn? Wat denkste, wat de Mächen hier schon früh rumknutschen? Is det denn bei euch nich so? Biste ehrlich, Karl, haste noch nie een Mächen jeküßt?“
„Doch – aber ...“
„Na siehste! Da gibt's jar keen Aba! Jünger als du wird se wohl jewesen sind! Aba det sare ick dir, hier paß uff! Und wenn de dir doch verknallst, denn komm bei mir! Ick wer' dir schon raten! Die Mächen hier kenn ick, und die anderen Mädchen seh ick mir eenmal an, dann weeß ick Bescheid. Komm man immer bei Rieke, Karl, die hilft dir!“
Karl Siebrecht musste lachen: „Du redest, Rieke, als wärest du meine Großmutter. Und außerdem werde ich mich hier bestimmt nicht verlieben.“
„Verrede es nich! Du bist een hübscher Junge, und det werden die Mächens hier ooch sehen. Und die in deinem Kaff is weit weg.“
„Ich verliebe mich bestimmt nicht!“
„Wart's ab, Karl, wart's ab!“
Trotzdem die Uhr schon halb elf war, trafen sie den alten Dienstmann doch unruhig vor dem Hause Müllerstraße 87 wartend. „Na, Opa“, sagte Rieke triumphierend, „du hast woll Angst jehabt? Da haste deine Karre. Und siehste, wat ick hier for dir habe: eene Wurscht. Aber keene von Aschinger, denk det bloß nich, die kommt direkt von't Land, di ha' ick dir mitjebracht, Opa!“
„Jott, Mächen“, sagte der Alte ganz gerührt. „Det war ja nu nich nötig jewesen. Jott, riecht die schön! War die im Rooch?“
„Natürlich war die im Rooch, und nich so Kiefernrooch, wie die Schlachter hier machen, nee, richtijen Buchenrooch. Na, nu jute Nacht, Opa!“
„Jute Nacht, Mächen. Dank ooch schön.“
„Nischt zu danken!“ rief Rieke schon im Gehen. „Weeßte übahaupt weswegen du de Wurscht jekriegt hast, Opa?“
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