„Der is eingepennt, Rieke“, flüsterte Kalli Flau.
„Der soll man schlafen“, flüsterte sie zurück. „Mit uns is doch nischt mehr zu machen.“
„Du, Rieke ...“
„Ja, Kalli?“
„Was ist denn das für ein reicher Knopp, von dem Karl ohne weiteres Geld kriegen kann?“
„Ach, laß doch, Kalli. Der jeht ja doch nich!“
„Gibt der ihm wirklich soviel Geld, wie Karl haben will?“
„Det jloobe ick stark! Der hat sich sogar anjeboten, Karlen studieren zu lassen, uff Baumeesta. Aba Karl will ja nich.“
„Und warum will Karl nicht?“
„Ach, ick weeß nich. Er hat da wat von de Bibel jesagt, det der Herr der Vasucha is – ick vasteh det nich. Würdste Jeld liegenlassen, wat de kriegen kannst – und denn in unsre Lage?“
„Ich nicht, Rieke! Ich bestimmt nicht!“
„Ick ooch nich, Kalli. Aber det is det: Uns, die wir't nehmen, wird nischt anjeboten, und er, der't kriegen kann, der nimmt et nu wieda nich. Komisch is det injerichtet uff de Welt, Kalli.“
„Ich höre alles, was ihr sagt“, rief Karl Siebrecht ganz vergnügt. „Denkt ihr, ich habe geschlafen? Ich habe nicht einen Augenblick geschlafen!“
„Natürlich haste geschlafen, Karl! Ick habe dir doch schnurkeln jehört.“
„Nicht habe ich geschlafen!“
„Doch haste! Von wat haben wa denn jeredet?“
„Ihr habt geredet, warte mal – ach, weißt du, Rieke, vielleicht habe ich doch einen Augenblick geschlafen. Mir war so, als wäre ich wieder in dem Hühnerschuppen von Vaters Garten, weißt du, ich habe dir davon erzählt, wo ich mal mit Ria war –“
„Ick weeß schon, Karl!“
„Aber Ria war nicht bei mir. Siehst du, ich habe doch nicht geschlafen! Ich hörte euch deutlich reden, dass ich nicht zum Rittmeister wollte, um Geld bitten. Aber ich dachte, das brauche ich ja auch gar nicht. Hier sind ja die Hennen, die Eier legen. Und ich fing an, nach den Eiern zu suchen. Es war ganz dunkel, und ich stieß mich an der Gießkanne und an der Karre, aber dann fand ich doch ein Ei. Es war sehr schwer, ich merkte gleich, dass es aus Gold war, und ich dachte, nun haben wir genug Geld für den Hagedorn und für alles.“ Er schwieg, völlig zufrieden.
„Und denn, Karle?“
„Dann bin ich eben aufgewacht, und nun bin ich wieder hier bei euch in der Küche. Du bist doch auch da, Kalli –?“
„Bin ich, Karl. Immer zur Stelle, wenn Kalli gebraucht wird.“
„Ja, Karle“, sagte Rieke. „Nu biste wieder bei uns in de Küche! Aba hier findste keene joldenen Eier ins Dustere. Die Uhr is bald sechse, um sieben will der Hagedorn sein Jeld, und zweiundneunzigsiebzehn fehlen uns noch imma!“ Sie hatte bitter und erbarmungslos gesprochen, ach, sie war wohl so unglücklich, die kleine Rieke, dass sie ihrem Freund sogar seinen schönen Traum mißgönnte!
„Also dann!“ sagte Karl Siebrecht. „Dann muss ich also das Geld schaffen.“ Er stand auf. „Wo ist denn meine Mütze? Ach, hier! Also dann wartet hier, kurz vor halb sieben bin ich wieder zurück.“ Und er ging zur Tür.
„Karle!“ rief Rieke und lief ihm nach, hielt ihn fest. „Wohin willste? Jeh nich bei den! Vajiß, wat ick gesagt habe! Wenn de bei den jehst und überwindst dir und holst det Jeld meinetwejen – det vazeihste mir dein janzet Leben nich! Lieba soll der Hagedorn uns alle ins Kittchen stecken!“
„Rieke“, sagte Karl Siebrecht. „Rieke! Du sagst immer, du verstehst mich nicht. Aber dich verstehe ich auch nicht. Nun soll ich wieder nicht zu ihm gehen? Aber wenn ich nicht zu ihm gehe, das verzeihst du mir doch auch nicht? Das vergißt du doch auch in deinem ganzen Leben nicht?“
„Doch, Karle, bestimmt! Jeh nich bei den!“
„Ich gehe ja auch nicht zu ihm. Ich gehe zu ganz jemand anders.“
„Det sagste jetzt bloß so, um mir zu beruhigen, Karle.“
„Nein, Rieke, ich gehe wirklich zu jemand anders. Komisch, ich habe nie an den gedacht, und ich habe auch nicht von ihm geträumt, aber als ich aufwachte, da wußte ich: zu dem musst du gehen, der gibt dir das Geld! – Und nun muss ich laufen, Rieke, sonst verpasse ich ihn.“ Und damit war Karl Siebrecht aus der Stube und lief in einem Trab bis vor das Haus in der Krausenstraße, in dem die Firma Kalubrigkeit ihre Büros hatte. Er kam auch wirklich noch ein paar Minuten vor sechs dort an und sah sie alle, eilig oder langsam, aus dem Flur gehen, seine ehemaligen Kollegen, von dem pickligen Wums an bis zum schmissigen Herrn Feistlein, der eine schöne Zigarre rauchte.
Zuletzt aber kam der Oberingenieur Hartleben, und den sprach Karl Siebrecht an, und es wurde ihm nicht einmal schwer, diesen Mann um Geld zu bitten. Der Oberingenieur freilich war sehr überrascht, und so ohne weiteres sagte er nicht etwa ja, sondern Karl Siebrecht musste alles Warum und Wieso haarklein berichten, und dann gab es erst eine Menge Tadel, Ermahnungen, Warnungen. So erfuhr Karl Siebrecht gleich, dass, wer Geld borgt, einen ganzen Sack ungebetenen Rat dazubekommt, den er doch mit dem Gelde nicht zurückzahlen darf. „Nun, ich sehe schon, Karl“, sagte der Oberingenieur schließlich, „ich muss dir diesmal das Geld geben. Aber es ist das einzige Mal, dass ich dir Geld leihe, das merke dir. Ich bin auch nicht so gestellt, dass ich das Geld entbehren kann. Du wirst es mir wiedergeben müssen, Karl, und je eher du das tust, um so lieber ist es mir. – Nein, einen Schuldschein will ich nicht, ich borge dir das Geld auf deine Anständigkeit hin.“
Das war schon in der Wohnung des Oberingenieurs, dass diese Rede gehalten wurde. Herr Hartleben trug natürlich eine solche Summe nicht mit sich in der Tasche herum. Sein Lebtag würde Karl Siebrecht nicht das kleine, schlecht erhellte Eßzimmer vergessen, in dem sie beide verhandelten. Der Tisch war schon gedeckt zum frühen Abend- oder späten Mittagessen, und alle Augenblicke steckte ein Kind oder auch die Frau den Kopf durch die Tür, um zu sehen, ob der Vater noch immer nicht mit dem unerwünschten Besucher fertig war. Nun schloß der Oberingenieur ein Seitenfach des häßlichen, grün verglasten, gelben Büfettchens im Jugendstil auf, und da stand auf ein paar Weingläsern eine Zigarrenkiste. Die nahm er heraus. In der Zigarrenkiste lagen ein paar Scheine und Münzen. Der Oberingenieur zählte – er seufzte beim Zählen – und sagte: „Hier sind also fünfundneunzig Mark, Karl!“
„Ich brauche aber nur zweiundneunzig Mark siebzehn!“
„Nun, nimm schon die fünfundneunzig!“
„Ich möchte aber nicht mehr, als ich brauche!“
„Ich sage dir, nimm! Zwei Mark dreiundachtzig sind schon wenig genug, wenn das alles Geld ist, von dem ihr in den nächsten Tagen leben wollt.“ Und hastig setzte Herr Hartleben hinzu: „Aber mehr kann ich dir nicht geben, Karl!“
Er brachte den Besucher selbst über den engen Gang zur Wohnungstür, und aus der Küche sahen Frau und Kinder schweigend auf Karl. Ihm kam vor, als sähen alle ihn böse an, und er hatte ein so schlechtes Gewissen, als habe er ihnen ihr Geld und damit ihr Brot fortgenommen. Noch auf der Straße grübelte er, wieso es ihm leichter geworden war, den Oberingenieur Hartleben, dem das Geld knapp war, um Hilfe anzugehen als den Herrn von Senden, der ihm wahrscheinlich einen Hundertmarkschein ohne alles Fragen in die Hand gedrückt hätte. Aber freilich, da lag es wohl: er wollte nichts in die Hand gedrückt haben, ihm sollte nichts geschenkt werden. Jetzt war es schwer entbehrtes Geld, das zurückgegeben werden musste, mochte es noch so schwer angehen!
Die beiden warteten schon sehr auf ihn, denn die Uhr war schon fast sieben. Er erzählte nur mit ein paar Worten, wie er es nun doch geschafft hatte, gab Rieke die restlichen 2,83 Mark zum Brotkaufen und lief mit Kalli Flau zu Hagedorn. Von dort mussten die beiden sofort zu Felten, der würde schon böse sein, weil sie so spät kamen. Aber da sie zu zweien waren, würden sie die verlorene Zeit schon wieder einbringen. –
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