christian polansek
GUTEN MORGEN HERR MÜLLERMEIER
Ein Bürger findet seinen Meister
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Inhaltsverzeichnis
Titel christian polansek GUTEN MORGEN HERR MÜLLERMEIER Ein Bürger findet seinen Meister Dieses ebook wurde erstellt bei
Auf der Straße
Der Zentralmarkt
Kurt Müllermeier
Maria Müllermeier
Im Kaffeehaus
Oxohigh
Die Fernsehberichterstattung
Der Dealer
Der Künstler
Daheim
Der Herr Bürgermeister
Wer bin ich?
Die Vorfreude
Auf der Suche
Er gehört uns
Noch ein Versuch
Im Büro
Prost
Kurt und Elvira
Am Flughafen
Erinnerung
Angelika
Heidelbeertopfenstrudel
Die Aufregung
Die Frau des Bürgermeisters
Angelika zieht um
Der Mitarbeiter von der Zentralbank
Hallo Schatz
Die Jahre vergehen
Das Gerüst am Rathaus
In der Nacht
Eigendynamik
In der Bankfiliale
Der Besuch
Die Pressekonferenz
Die Zelle
Der Baugerüststadtteil
Das Treffen
Meine Welt
Die Vernissage
Man hat so seine Zweifel
Impressum neobooks
„Guten Morgen, Herr Müllermeier! Warum liegen Sie hier am Asphalt auf der Durchzugsstraße? Kommen Sie! Stehen Sie auf! Wir helfen Ihnen!“, sagt der Jüngere der beiden Polizisten. Er packt Herrn Müllermeier unter der Achsel und hilft ihm auf die Beine. „Haben Sie die Nacht durch-gemacht, Herr Müllermeier?“ Kurt Müllermeier und die beiden Polizisten stehen mitten auf der Straße. „Warum sagen Sie immer Herr Müllermeier zu mir?“ „Weil Sie Herr Müllermeier sind, Herr Müllermeier.“ Irritiert schaut der junge Mann im dunkelblauen Anzug dem jüngeren Polizisten in die Augen.
„Irgendwo, in meiner Sakkotasche steckt mein Reisepass.“ Der junge Mann klopft den Staub von seinem Sakko. Er greift in die Innentasche seines Sakkos. „Aha, da ist ein Ausweis. Tatsächlich, da steht Kurt Müllermeier, geboren am 3.8.1998. Bin das ich, meine Herren?“ Der junge Mann im dunkelblauen Sakko hält den geöffneten Reisepass den beiden Polizisten vor die Nase. „Ja, das sind Sie. Wer soll das sonst sein. Das sind Sie, Herr Kurt Müllermeier.“ „Herr Müllermeier, bitte kommen Sie mit uns auf den Gehsteig, bevor uns ein herannahendes Fahrzeug anfährt.“ Die beiden Polizisten stützen den Mann im dunkelblauen Sakko und geleiten ihn auf den Gehsteig. „Ich kann schon alleine gehen. Danke, meine Herren.“ „Sicher?“ „Ja, ich kann. Schauen Sie. Ich weiß zwar nicht ganz genau, wer ich bin, und kann mich an nichts, nicht einmal an mich selber, erinnern, aber geradeaus gehen kann ich.“ „Ist Ihnen schlecht?“ „Nein. Sie sind sehr hilfsbereit, meine Herren. Ich finde mich schon alleine zurecht. Ich weiß zwar noch nicht, wo ich bin, aber das wird schon. Was ist heute für ein Tag?“ „Es ist Sonntag, der 3. 8. 2035“, antwortet ihm der jüngere Polizist. „Ah, laut Reisepass mein Geburtstag.“ „Alles Gute zum Geburtstag, Herr Müllermeier“, gratulieren ihm beide Polizisten. „Danke, meine Herren! Danke, auch für die Hilfe.“ „Keine Ursache, Herr Müllermeier“, entgegnen beide Polizisten wie aus einem Mund. „Kommen Sie gut nach Hause. Auf Wiedersehen, Herr Müllermeier“, verabschiedet sich der jüngere Polizist. „Auf Wieder-sehen, Herr Müllermeier!“, schließt sich der Ältere an. „Auf Wiedersehen!“, murmelt der Herr Müllermeier in sich hinein, während er den beiden sich entfernenden Polizisten nachschaut. Verstört blickt er um sich. „Verdammt! Wo bin ich hier?“, fragt er sich.
„Ich lauf mir schon mehrere Tage lang die Füße wund. Ich kann nicht mehr stehen bleiben. Die Sohlen meiner Schuhe sind schon so dünn wie Papier. Mit jedem Schritt, den ich setze, hab ich das Gefühl, ich verliere ein Stück meiner Identität. Mit jedem Schritt meiner Beine verschwindet ein Stück Ich.“ „Kennen Sie mich?“, fragt er die Frau am Würstelstand am Hauptplatz. „Kennen Sie mich?“, brüllt er sie an. „Ja! Ich kenne Sie. Sie sind der Herr Müllermeier aus dem Villenviertel. Dort wohnen Sie mit Ihrer hübschen Frau und Ihren bezaubernden drei Kindern“, versucht ihm die Frau im Würstelstand zu erklären. „Sie sind der Bürgermeister dieser Stadt. Ihr Büro befindet sich dort oben im Rathaus. Gehen Sie dorthin. Dort befindet sich ein Schild mit Ihrem Namen drauf.“ „Woher wissen Sie das alles über mich?“ „Weil Sie unter der Woche mehrmals am Tag über den Hauptplatz gehen. In der Früh zur Arbeit, am Abend zurück zu Ihrem Haus ins Villenviertel.“ „Und warum weiß ich nichts davon. Warum? Sagen Sie mir das bitte!“ „Lassen Sie mich in Ruhe. Gehen Sie! Gehen Sie! Sie verscheuchen mir die Leute. Gehen Sie nach Hause. Schlafen Sie Ihren Rausch aus.“ „Wo ist mein Zuhause?“, will Kurt Müllermeier nochmals wissen. „Das Villenviertel, Wald-gasse 6. Gehen Sie!“ „Ist ja schon gut“, sagt Kurt Müllermeier. „Ich geh ja schon. Bin schon weg.“ Kurt Müllermeier verlässt den Würstelstand.
„Waldgasse 6“, versucht er sich zu merken. „Waldgasse 6, ja Waldgasse 6. Waldgasse. Welche Nummer war das?“ Mit jeder Bewegung seiner Beine verschwindet ein Teil seines Kurzzeit-gedächtnisses. „Wald? Was? Wo soll ich hingehen? Ich brauche Hilfe. Ich kann mir gar nichts mehr merken. Scheiße, wie hab ich geheißen? Karl Müllerreiter oder Alfred Mülleimer. Müll. Ich brauche Hilfe.“
„Hilfe! Helfen Sie mir“, fleht er einen Mann vor dem Abstieg zur U-Bahnstation an. „Helfen Sie mir! Ich brauche einen Psychiater oder einen Neurologen. Ich verliere mit jeder Sekunde ein Stück meiner Identität, meiner Persönlichkeit. Schnell! Bitte! Wo muss ich hin?“ „Steigen Sie mit mir in die U-Bahn. Ich arbeite in der Verwaltung des Zentralkrankenhauses. Ich begleite Sie bis zur Neurologie. Die kümmern sich um Sie.“ Die U-Bahn hält vor den beiden Männern. „Steigen Sie ein. Diese U-Bahn fährt bis zum Zentralkrankenhaus.“ Beide Männer steigen in die U-Bahn.“ „Set-zen Sie sich hin und geben Sie einfach Ruhe, bis wir an der Endstation angelangt sind.“ Kurt Müllermeier setzt sich hin. Der Angestellte des Zentralkrankenhauses stellt sich beobachtend und schützend neben Herrn Müllermeier. Die Türen schließen, die U-Bahn fährt los.
Kurt Müllermeier sitzt gegen die Fahrtrichtung in der U-Bahn. Er starrt ins Leere. Der Verwaltungsangestellte des Zentralkrankenhauses zückt sein Handy und wählt. „Hallo! Vermittlung! Können Sie mich mit der Neurologie verbinden. Danke. Bin ich mit der Neurologie verbunden?“ „Ja! Bitte was brauchen Sie von uns, Herr Poschnik?“ „Ich habe einen Mann auf der Straße aufgelesen, welcher anscheinend dabei ist, seine gesamte Persönlichkeit zu verlieren. Er weiß nicht mehr seinen Namen. Er weiß nicht, wo er wohnt, wo er hingehört. Er erzählte mir, er verliere mit jeder Sekunde, die vergeht, ein Stück seiner Identität. Könnten Sie so in zehn Minuten zur Endstation der U-12 kommen und diesen Mann abholen. Ich bin mir nicht sicher, aber er schaut unserem Bürgermeister Dr. Kurt Müllermeier verdammt ähnlich.“ „Kann er gehen?“ „Ja schon, das ist nicht sein Problem.“ „Hätte ja sein können, dass er auch diese Fähigkeit vergessen, bezie-hungsweise verloren hat.“ „Er kann gehen.“ „Gut. Ich informiere die Ärzte.“ Kurze Sprechpause am anderen Ende des Telefons. Man hört mehrere Stimmen. „OK. Zwei Pfleger warten an der Endstation auf Sie beide.“ „Danke, Frau Schmidt. Bis später“ „Bis später, Herr Poschnik.“
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