„Herr Müllermeier. Wir sind an der Endstation. Wir müssen aussteigen.“ Kurt Müllermeier schaut von seinem Sitzplatz in der U-Bahn auf: „Wer sind Sie, und was wollen Sie von mir?“ „Ich helfe Ihnen. Schauen Sie, da draußen warten schon zwei Pfleger auf Sie. Die werden Sie mit dem Rollstuhl zur Abteilung für Neurologie bringen. Kommen Sie. Steigen Sie mit mir aus.“ Kurt Müllermeier steht auf und gehorcht. Unsicheren Schrittes bewegt er sich zur offenen Schiebetüre der U-Bahngarnitur. Anscheinend hat er auch Probleme mit dem Gehen. Die beiden Pfleger kommen ihm entgegen und helfen ihm aus der Straßenbahn.
„Bitte, Herr Dr. Müllermeier, setzen Sie sich in den Rollstuhl, das ist sicherer für Sie.“ Vorsichtig helfen die beiden Pfleger Herrn Dr. Müllermeier in den Rollstuhl. „Danke, Herr Poschnik, dass Sie den Herrn Dr. Müllermeier bis hierher begleitet haben.“ „Gerne. Keine Ursache“, entgegnet Herr Poschnik. „Ich muss in mein Büro. Bitte seien Sie so gut und richten Sie der Frau Schmidt im Sekretariat liebe Grüße von mir aus.“ „Machen wir gerne.“ „Auf Wiedersehen!“ „Auf Wie-dersehen!“ „So. Herr Dr. Müllermeier, wir bringen Sie nun auf die Station zu unseren Fachärzten. Die werden nun entscheiden, wie Ihnen geholfen werden kann.“
Einer der Pfleger schiebt den Patienten zum Lift, welcher zur Neurologie führt. Der andere geht neben-her. Im Lift drückt einer der Pfleger das Stockwerk. In der Abteilung für Neurologie bringen die beiden Pfleger den Patienten zur Erstaufnahme. Die Sekretärin in der Erstaufnahme ruft die Fachärzte aus. „Herr Oberarzt Dr. Feinbein in die Aufnahme kommen. Dringend. Bitte“, spricht die Sekretärin ins Mikrophon vor ihrem Schreibtisch.
„Wie heißen Sie?“, will die Sekretärin von Herrn Dr. Müllermeier wissen. „Wegen der Bürokratie verstehen Sie? Ich muss Sie erfassen.“ Kurt Müllermeier wirkt total verwirrt und scheint so ziemlich alles verloren zu haben, um sich auszudrücken. „Jetzt kann er nicht ein-mal mehr reden“, meint einer der Pfleger.“ „Hat er irgendwelche Papiere bei sich? Eine E-Card?“ Kurt Müllermeier sitzt wie versteinert im Rollstuhl. Man hat den Eindruck, das Einzige, was er noch schafft, ist zu atmen. „Bitte! Schauen Sie nach, ob er irgendwas eingesteckt hat! Einen Ausweis, irgendetwas.“ Kurt Müllermeier hat noch immer den wertvollen Anzug an, in dem ihn gestern die beiden Polizisten aufgelesen hatten. Einer der beiden Pfleger durchsucht den verwirrten Patienten. „Ich kann nichts in seinen Taschen finden. Keinen Ausweis. Keine Geldbörse, einfach nichts. Oh, da ist doch was. Ein Reisepass und doch eine Brieftasche. Hier stecken so an die 500.- Eurasos drinnen. Und hier der Reisepass. Bitte Frau Schmidt. Für Sie.“ Der Pfleger streckt der Sekretärin den Reise-pass entgegen. „Dr. Kurt Müllermeier, steht in dem Dokument. Und da leuchtet auch eine E-Card aus dem Geldbörserl. So dann stecken wir die E-Card in den Schlitz. Die reagiert. Meine Herren laut dem Rechner bei der Krankenkasse ist der Mann wirklich unser Bürgermeister Dr. Kurt Müllermeier.“ „Holst Du bitte ein Glas Wasser für unseren Patienten. Der wirkt dehydriert.“ Der Jüngere der beiden Pfleger holt ein Glas Wasser und gibt Dr. Müllermeier zu trinken. Dieser saugt das Wasser aus dem Glas, als wäre er wirklich am Verdursten. „Herr Oberarzt Dr. Feinbein, bitte in die Aufnahme“, ventiliert die Sekretärin Frau Schmidt nochmals in ihr Mikro am Schreibtisch. Das Handy am Schreibtisch von Frau Schmidt läutet. „Hallo. Hier Frau Schmidt. Ah, Dr. Feinbein. Gut, dass Sie sich melden. Wir haben hier einen Patienten, der immer mehr verfällt. Kommen Sie bitte schnell in die Aufnahme.“ „Was hat er für Symptome?“ „Er wirkt total dehydriert, kann nicht mehr sprechen, und sich auch nicht mehr bewegen. Bitte kommen Sie schnell.“ „Bin schon unterwegs.“ Er legt auf. „Dr. Feinbein ist schon am Weg“, teilt Frau Schmidt den Pflegern mit. „Ja, der soll schnell kommen, bevor es noch schlimmer wird.“
Dr. Feinbein erscheint. Ein fünfzigjähriger grauhaariger großer Mann. „Meine Dame, meine Herren, wo ist der Patient?“ „Das Einzige, was an dem Mann noch perfekt ist, ist seine Kleidung.“ Dr. Feinbein hockt sich vor den Patienten. „Können Sie mich hören?“ Außer Schnaufen gibt Dr. Müllermeier nichts mehr von sich. Dr. Feinbein steht wieder auf. „Da können wir gar nichts machen. Der Mann ist total erschöpft. Der muss sich vorerst einmal ausschlafen, da-mit er wieder zu sich finden kann. Welches Zimmer ist frei?“ „Zimmer 718.“ „Meine Herren, bringen Sie den Patienten auf Zimmer 718 und rufen Sie vorher Frau Primaria Dr.in Elf. Sie soll sich weiter um den Herren kümmern.“ „Frau Primaria Dr.in Elf bitte zur Aufnahme kommen. Dringend.“
„Ich steh schon seit fast über fünf Minuten hinter Ihnen, Frau Schmidt. Kommen Sie, meine Herren, bringen wir unseren Patienten auf sein Zimmer. Die Pfleger bringen Dr Müllermeier auf Zimmer 718. Die beiden Pfleger heben ihn aus dem Rollstuhl ins Krankenbett. Sein Zustand verschlechtert sich von Sekunde zu Sekunde.
Frau Primaria Dr.in Elf bereitet eine Injektion vor. „Das wird Sie stabilisieren“, gibt sie dem im Bett liegenden Patienten zu verstehen. Sie injiziert dem Patienten einen Mix aus Beruhigungs- und Schlafmittel. „Das wird Sie drei Tage lang durchschlafen lassen.“ Der Körper des Patienten beginnt sich nach der Injektion zu entspannen. Dr. Müllermeier schläft ein. Frau Primaria Dr.in Elf hängt den Patienten noch an eine Nährstoffinfusion. „Damit der Patient genug Nährstoffe bekommt und nicht noch mehr austrocknet“, erklärt sie den Pflegern. Alle drei verlassen das Zimmer 718. Der leere Rollstuhl wird mitgenommen. Die Zimmertüre schließt automatisch. Herr Dr. Müllermeier schnarcht selig vor sich hin.
Das ist der Zentralmarkt in Sonnenstadt. Wir befinden uns im Jahr 2020, plus minus 10 Jahre. Ein Mann namens Kurt Müllermeier, ein Marktfierant, steht hinter seinem Marktstand und bietet seine Fruchtsäfte, Nüsse, und sein auf seinem Grund wachsendes Obst an. Wir befinden uns im Monat Juli, da gibt es herrliche Pfirsiche bei ihm zu kaufen.
In der Zeit um das Jahr 2020 plus minus 10 Jahre gab es in Sonnenstadt sehr viele Männer mit dem Namen Kurt Müllermeier. Alle behaupteten, sie seien nicht miteinander verwandt, obwohl sie sich alle sehr ähnlich schauten. Der eine Müllermeier wusste auch sehr wenig über den anderen Müllermeier. Sie hatten alle unterschiedliche Berufe und eine andere Herkunft. Und andere Eltern, wenn man ihren Dokumenten Glauben schenken durfte. Jedenfalls gab es wahrscheinlich zu dieser Zeit die höchste Kurt-Müllermeier-Dichte in Europa, obwohl zeitgleich auch in anderen europäischen Städten sehr viele Kurt Müllermeiers sesshaft waren.
Unser heutiger Kurt Müllermeier ist Marktstandler und bietet seine Produkte feil. Hinter ihm befindet sich ein Fischproduzent. Er verkauft Teichfische. Vor dem Marktstand dieses Kurt Müllermeier bietet ein Schweinemäster seine Würste, sein Geselchtes und Verhackertes an. Die diesem Zeitraum zugeordnete Veganisierung Eurasiens hat anscheinend doch noch nicht stattgefunden. Seltsamerweise schmeckte damals fast jedes Lebensmittel gleich. Die genetische Manipulation vieler Lebensmittel und die gesetzlich vorgeschriebenene massive Beimengung von Geschmacksverstärkern führten zu einer geschmacklichen Gleichschaltung fast aller essbaren Produkte; außer den Früchten von den Bauern am Zentrallebensmittelmarkt von Sonnenstadt.
Einen ähnlichen Verdacht hatte man bei den Kurt Müllermeiers. Die mittlerweile mehrere Millionen zählende Männerschaft der Kurt Müllermeiers in Eurasien schaute sich untereinander so ähnlich, dass der Verdacht entstand, dass es sich hier um Klone handle. Doch die Geburtsurkunden und Stammbäume wider-legten dies. Ein Rätsel dieser Zeit.
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