Belegt ist noch, dass sich viele von den Kurt Müllermeiers einer Schönheitsoperation unterzogen, um doch den anderen Kurt Müllermeiers nicht zu ähnlich zu schauen. Es gab in Sonnenstadt in der Eurasischen Kommission sogar ein Büro für müllermeiersche Diversität. Um den vielen Müllermeiers ihre Gleichgestaltigkeit zu nehmen und um sie wieder zu individualisieren. Mit mehr oder minder großen Erfolgen.
Zum Glück war dieses Kurt-Müllermeier-Aussehen nicht vererbbar. Die Kinder von den Kurt Müllermeiers sahen ihren Vätern im Großen und Ganzen nicht sehr ähnlich. Sie waren in ihrem Erscheinungsbild, also phänotypisch, unterschiedliche Individuen.
Eigentlich müssten sich die Bürokraten in der Eurasischen Union riesig freuen, dass es auf einmal einen typischen Eurasier gab. Einen standardisierten männlichen eurasischen Menschen, der einen bestimmten Namen trug und ein bestimmtes Aussehen hatte. Das von Kurt Müllermeier!
Bei der Geburt waren alle männlichen Babys mit dem Namen Kurt Müllermeier unterschiedlich und unterscheidbar. Sie hatten alle ihr eigenes Geburtsgewicht, eine eigene Hautfarbe, eine eigene Augenfarbe und eine eigene Körpergröße. Erst vom 17. bis zum 18. Lebensjahr verwandelten sich die Kurt Müllermeiers zu den gleichgestaltigen Persönlichkeiten, welche sie nun waren. Das Geburtsdatum war unerheblich. Entscheidend war die Lebenszeit vom 17. bis zum 18. Lebensjahr. Manche sprachen von einem eurasisch genormten Menschen. Anzumerken ist noch, dass diese Veränderungen um das Jahr 2020 stattfanden. In allen eurasischen Ländern wurden von den Textilproduzenten Kurt-Müllermeier-Konfektionsgrößen hergestellt. Schuhe, Pullover, Anzüge, Socken, Hüte, Anoraks, Hemden, Handschuhe, Jacken. Endlich war er da, der genormte Körper, das genormte Gesicht, der eurasisch genormte Mensch, Millionenmal gleich aussehend.
Obwohl es aussah, als ob das Menschenmodell Kurt Müllermeier einem Ideal nach den Wunschvorstellungen manches eurasischen Bürokraten, mancher eurasischer Bürokratin entsprach, war Kurt Müllermeier keine Erfindung oder Entwicklung einer Kommission der Eurasischen Union.
Das Menschenmodell Kurt Müllermeier war auf ein-mal in allen Mitgliedsstaaten der Eurasischen Union millionenfach da. Wer dafür verantwortlich war, und welche geheime Macht für das Auftauchen dieser Männer in der Eurasischen Union den Plan ausgeheckt hatte, war damals nicht klar. War es die Textilindustrie? Waren es die Autohersteller, die Nahrungsmittelerzeuger? Keiner erklärte sich für zuständig, oder wollte damit in Zusammenhang gebracht werden, ob-wohl man im großen Stil von den gleich aussehenden Kurt Müllermeiers profitierte.
Andere Staatsmächte wurden verdächtigt, hier ihre Fäden gesponnen zu haben, auf dem Boden der Eurasischen Union experimentiert zu haben. Es konnte keine klare Spur verfolgt werden. Es gab keine Indizien. Der größte Profiteur vom Phänomen Kurt Müllermeier war die Eurasische Union selbst, obwohl niemand in der Eurasischen Union glaubhaft versichern konnte, er sei für die Kurt-Müllermeier-Sache verantwortlich. Niemand wollte Kurt Müllermeier erfunden haben.
Niemand!
Nach dem Erscheinen des Kurt-Müllermeier-Stereo-typs in der Eurasischen Union tauchte auch der Typus Maria Müllermeier in der Eurasischen Union auf. Das weibliche Gegenstück zum Kurt-Müllermeier-Stereo-typ. Die Maria-Müllermeier-Stereotype mutierten ca. zwei Jahre nach dem Erscheinen der Kurt-Müllermeier-Typen. Auch sie entstanden aus den unterschiedlichsten Frauentypen. Mit dem Alter von 17 Jahren wurden aus verschiedenen jungen Frauen, aus den un-terschiedlichen eurasischen Ländern und mit unterschiedlicher Hautfarbe der Typus Maria Müllermeier. Der Maria-Müllermeier-Typus war 172 cm groß, meist blond, blauäugig und großbusig. Millionen von jungen Frauen verwandelten sich in Eurasien in Maria Müllermeier. Den Namen Maria Müllermeier trugen sie bereits vor der Verwandlung. Das stereotype Aussehen des Maria-Müllermeier-Typs wurde erst, wie gesagt, ab dem 17. Lebensjahr bestimmt.
Der typische Eurasier und die typische Eurasierin sind geboren.
Kurt Müllermeier war bereits bevor beide mutierten, in Maria Müllermeier verliebt. Seine große Jugendliebe. Aber die mutierte Maria Müllermeier, welche wie jede Maria Müllermeier in Eurasien aussah, interessierte ihn nicht mehr. Diese Maria Müllermeier war nicht sein Typ. Auch er gefiel seiner großen Jugendliebe nicht mehr. Das jetzige Erscheinungsbild von Kurt Müllermeier gefiel ihr nicht. „Das bist nicht mehr du“, hielt Maria Müllermeier Kurt Müllermeier vor. „ Und du, schau dich an, du schaust gleich aus, wie alle anderen Maria-Müllermeier-Typen. Was ist an dir noch Besonderes dran? Du bist nun eine von vielen Millionen. Früher warst du einzigartig. Nun bist du austauschbar. Was ist an dir noch außergewöhnlich? Ich werde mich von dir trennen, Maria. Vorher warst du eine interessante Frau.“ „Als du noch du warst, Kurt, habe ich dich geliebt, aber dieses normierte Monster, das du geworden bist, will ich mir nicht jeden Tag anschauen. Du hast recht, es ist besser, wir trennen uns. Für immer.“ Maria trinkt ihren Kaffee aus und verlässt, ohne weitere Worte zu verlieren, das Kaffeehaus. Auf der Straße gehend stößt sie einen dieser Kurt Müllermeiers zur Seite. „Bist deppert geworden?“, brüllt ihr dieser Kurt Müllermeier nach. „Ach, geh scheißen, du Arsch“, kontert diese Maria Müllermeier. Mit Kopfschütteln schaut ihr der angerempelte Kurt Müllermeier nach. Er beugt sich auf den Boden. Er hebt seinen Hut auf. Er klopft ihn ab und setzt ihn wie-der auf seinen Kopf. „Die werden immer aggressiver und rücksichtsloser, diese Maria Müllermeiers.“ „Und immer mehr!“, bestärkt ihn ein vorbeigehender Kurt Müllermeier in engen Jeans, mit Rollkragenpulli und Turnschuhen bekleidet. „Ja! Sie sind viel zu viele, gegen die haben wir keine Chance“, sagt der Kurt Müllermeier im Anzug zum Jeans tragenden Kurt Müllermeier. „Wünsche noch einen Guten Tag.“ „Ja! Danke! Wünsche auch einen Guten Tag.“ Schon gehen beide Kurt Müllermeier wieder ihrer Wege.
Im Kaffeehaus im ersten Bezirk, in dem sich Kurt Müllermeier und Maria Müllermeier gerade getrennt hatten, moderiert gerade eine gewisse Maria Müllermeier die Morgennachrichten fürs Fernsehen.
„Wie soll man sich von Maria Müllermeier trennen, wenn sie überall präsent ist? Wann hört dieser Spuk endlich auf? Auch wenn sie alle anders angezogen sind diese Maria Müllermeiers, es handelt sich immer um Maria Müllermeier“, brüllt der verlassene Kurt Müllermeier, im Kaffeehaus vor der Videowall stehend, zu den spärlich im Gastraum sitzenden Gästen. Drei Mül-lermeierpärchen an verschiedenen Tischen schlürfen ihren Morgenkaffee. „Was glotzt Ihr Müllermeiers mich so an, Ihr Kurts und Marias? Was schaut Ihr so blöd? Warum sind Sie mit diesem Kurt Müllermeier in einer Beziehung? Warum haben Sie sich genau diese Maria Müllermeier ausgesucht, wo es eigentlich unmöglich ist, den Unterschied zwischen fünf Millionen Kurts und fünf Millionen Marias festzustellen. Warum gerade dieser Kurt und warum gerade diese Maria?“, ätzt der verlassene Kurt Müllermeier. „Ich habe nun bereits die vierte Maria Müllermeier hinter mir, und nix ist passiert, außer dass mein ganzes Vermögen bei jeder Trennung und Scheidung sich jedes Mal um die Hälfte verringert hat. Das hat immer funktioniert. Herr Ober! Bitte zahlen.“ „Sehr gerne! Herr Müllermeier.“ Der verlassene Kurt Müllermeier gibt dem Ober fünf Euraso. „Passt schon so“, sagt er und verlässt das Kaffeehaus.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, warum wir uns hier in London im Museum treffen und unsere Versammlung abhalten? Keine Ahnung? Sie sehen hier auf unserer Grafik die Umsätze in den Nationalstaaten der Eurasischen Union. Eine Katastrophe. Seit mehr als fünf Jahren verlieren wir in sämtlichen Staaten der Eurasischen Union jährlich mehr als 5 % des Marktes. Solange wir der einzige Anbieter am Drogenersatzmarkt waren, stiegen unsere Umsätze täglich. Mit unserem Oralpräparat Oxohigh beherrschten wir nicht nur die Nationalstaaten der Eurasischen Union, nein, wir waren weltweit der einzige und beste Anbieter für dieses Programm. Alles, was an illegalen Suchtmitteln an-geboten wurde, wurde dank unseres Präparates Oxohigh verdrängt. Mit Oxohigh waren wir länger als dreißig Jahre lang Weltmarktführer. Doch wie wir am eige-nen Leib erfahren mussten, gibt es nun Konkurrenz. Seit fünf Jahren ist die Konkurrenz mit ihrem synthetisch hergestellten, ebenfalls oral verabreichbaren Produkt Paxodol uns hart auf den Fersen. Alle uns be-kannten und von uns betreuten Drogentherapieärzte des Eurasischen Gebietes arbeiten grundsätzlich für uns. Sie verschreiben grundsätzlich nur unser Produkt.
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