„Auch auf die schrecklichen Seeungeheuer?“ –
„Liebes Mädchen, es gibt keine Seeungeheuer! Auf dem Meer siehst du allenfalls Delfine, Möwen oder ein paar springende Fische.“
„Aber Vetter Jakob war auch auf dem Meer, und er hat selbst ein Ungeheuer gesehen, mit eigenen Augen!“ –
„Das hat er geträumt. Du darfst nicht alles glauben, was man dir erzählt!“ –
„Und gegen furchtbare Piraten hat er gekämpft!“ –
„Dann ist dein Vetter mindestens 100 Jahre alt. Man kann gegen die Römer sagen was man will, aber mit den Piraten haben sie gründlich aufgeräumt. Ihre Nachkommen sind heute friedliche Bauern. Nein, wenn man nur einen wetterkundigen Kapitän an Bord hat, ist das Meer heute viel sicherer als der Landweg. Viele Händler fahren mit ihren teuren Schätzen eher übers Meer, als sich einer Karawane anzuschließen. Es ist schneller, weniger mühselig und sicher vor Räubern.“ –
„Hast du auch teure Schätze?“ –
„Ich bin Kaufmann und bringe viele Kostbarkeiten nach Alexandria: Vorhänge aus babylonischem Purpur und Byssus, feinstes Linnen aus Beth Sean. Außerdem Balsam, der so köstlich duftet, dass jeder Tropfen mit Gold aufgewogen wird. All das vertraue ich dem Meer an. Es gibt nichts Herrlicheres, als in den Großen Hafen von Alexandria einzufahren: rechter Hand der riesige Leuchtturm von Pharos, eines der sieben Weltwunder, linker Hand die Lochiasküste mit dem königlichen Palast. Überall Schiffe, die in den Wellen schaukeln. Sie tragen Gold, Silber, kostbare Stoffe und Gewürze aus Arabien und Indien bis nach Rom.“ –
„Wohnen in Alexandria nur fremde Völker?“ –
„Keineswegs, es sind viele Juden dort – viel mehr als in ganz Galiläa! Zwei große Stadtteile sind nur von Juden bewohnt. Tagelang kannst du durch die weiten Straßen laufen und hast doch noch nicht alle Straßen gesehen, in denen Juden wohnen. Sie lieben den Tempel genauso wie du. Jedes Jahr pilgern zehntausende zum Passahfest nach Jerusalem. Und sie lieben die Menschen aus dem Verheißenen Land. Wenn du zu ihnen fahren würdest, sie würden dich mit offenen Armen wie eine Fürstin empfangen.“ –
„Fährst du wieder dorthin zurück?“ –
„Sobald ich hier meine Geschäfte erledigt habe, kehre ich nach Alexandria zurück. Und da ich sehe, dass du so ein liebes Kind bist: Frag doch deinen Vater, ob er dich ziehen lässt. Wenn er es dir erlaubt, nehme ich dich gerne mit.“
„Nach Alexandria?“ –
„Nach Alexandria.“ –
„Auf deinem Schiff?“ –
„Auf meinem Schiff.“
Aquila lächelt einladend. Die Kleine sitzt mit offenem Mund eine Weile stumm da und sagt dann: „Darf ich dann auch die Stoffe aus Babylon berühren?“
Jetzt hält es die Mutter nicht länger hinter der Treppe: „Bathseba! Bathseba, sofort zu mir! Goliath, was redest du da!“ –
„Ich habe kein Wort gesagt!“ –
„Vater, bitte sag, dass ich nach Alexandria darf mit dem fremden Mann!“ –
„Goliath! Was redest du da!“ –
„Ich habe kein Wort gesagt!“ –
„Das Kind bleibt hier!“ –
„Schweig, Frau, und höre was ich dir sage!“ –
„Ich höre nichts! Was hast du vor!“ –
„Beruhige dich, ich werde dir alles erklären, aber unten im Haus. Du machst uns zum Gespött der Nachbarn!“ –
„Du willst unser Kind in die Fremde verkaufen!“ –
„Es ist eine fromme Familie!“ –
„Wie kann man fromm sein in der Fremde!“ –
„Es wird ihr dort sehr gut gehen!“ –
„Wie kann es einem gut gehen in der Fremde!“
Das Kind beginnt zu weinen. „Mutter, ich habe Angst!“ –
„Runter ins Haus mit dir! Was hast du auch mit fremden Leuten zu sprechen!“
Die Mutter wirft ihrer Tochter einen zornigen Bick hinterher: „Goliath! In ihren Adern rollt das Blut des Löwen von Juda!“ –
„Glaube nicht, dass ich meine Töchter an deine Nazarenischen Hungerleider verheiraten werde!“
Von den Nachbardächern dringt Gelächter herüber. Vor dem Haus haben sich Trauben von feixenden Kindern gebildet.
Naomi ist außer sich: „Gott hat mich gestraft, weil ich das Haus Davids verlassen und dich geheiratet habe, einen Mann von niedrigem Geblüt. Hart bestraft hat er mich und mir einen Sohn verweigert. Aber ich habe Sühne geleistet, und er wird sich erbarmen und meine Töchter dem Haus Davids zurückführen!“ –
„Schweig, Frau!“
Von den Nachbardächern klingen bereits die ersten Sprechchöre herüber: „Saul! Stopf dem Nazarenerweib das Maul!“
Die Stimme der Frau überschlägt sich, als sie über die Dächer brüllt: „Und ihr bekommt keine von ihnen! Keine!“ –
„Frau, bist du rasend, ins Haus mit dir!“
Zwei Dächer weiter lässt Sauls Vater seine Stimme vernehmen: „Und das von meiner Schwiegertochter! Saul, gebiete der Nazarenerin zu schweigen!“
„Schweig jetzt, Weib, ins Haus mit dir!“ –
„Ich schweige nicht, wenn man mir meine Tochter rauben will!“
„Ehre das Gastrecht, und schweig!“ –
„Meine Tochter bleibt hier!“
„Gute Frau, beruhige dich“, schaltet sich Aquila ein. „Ich werde deine Tochter nicht mitnehmen. Saul, führe mich zur Straße nach Sepphoris.“
3. Frauen
(j62 87.110.150.343.345.349.372f.386.395ff, il, il95, pr 327, ow 295f, mg 88.90, lg I 173ff, sd 72.75.122.184.218ff, tö 65.145.145.151.182.209.307.323f, s74 508ff, hd 81, co, dg, ww, bü 73ff)
Für einen Nichtjuden ist es schon schwer genug, von seiner jüdischen Umgebung akzeptiert zu werden. Für eine Nichtjüdin ist es praktisch unmöglich. Bezeichnenderweise ist für nichtjüdische Frauen unter den Juden Palästinas die Bezeichnung „Prostituierte“ geläufig. Dieser charmante Begriff wird sogar auf Frauen angewandt, die zum Judentum übergetreten sind – schließlich sind sie unter heidnischen Verhältnissen aufgewachsen. Eine Nichtjüdin ist also doppelt gehandicapt: Als Heidin und als Frau.
„Mann Alex, jetzt leg doch nicht schon wieder deine peinliche Frauenversteher-Platte auf. Das nimmt dir doch eh keiner ab.“ –
„Ich weiß, wovon ich rede, Liz.“ –
„Nein, weißt du nicht.“ –
„Ich kann dir Bücher zeigen, in denen –“ –
„Bücher! Bücher kannst du mir viele zeigen. Aber was ist mit deiner Zeitmaschine? Ich dachte, du wärst schon in der Welt Jesu gewesen und hättest dir selbst ein Bild gemacht?“
Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet jetzt die Entwicklung auf die nächste Eskalationsstufe hochfahre: „Also gut, Liz. Ich habe es mir überlegt. Ich nehme dich mit in die Zeit Jesu.“ –
„Na endlich! Ich ziehe nur schnell noch meine Lippen nach, dann können wir los.“ –
„Du solltest dich besser abschminken. Und nimm einen Stoff mit, mit dem du deinen Kopf verhüllen kannst.“ –
„Auch das Gesicht?“ –
„In Jerusalem ja, jedenfalls wenn du dich in vornehmen Kreisen bewegen willst. Du brauchst zwei Kopftücher, ein Stirnband mit kinnlangen Bändern und ein Haarnetz mit Bändern und Schleifen.“ –
„Herrje, muss ich mich dort wirklich hinter Tüchern verstecken wie in einem Taliban-Regime?“ –
„Nicht überall. Auf dem Land in Galiläa genügt ein einfaches Kopftuch. Aber in Jerusalem gibt es Frauen, die stolz darauf sind, dass nicht einmal die Balken ihres eigenen Hauses ihr Haar jemals gesehen haben.“ –
„Und schminken darf man sich wohl nicht?“ –
„Doch, viele Frauen schminken und parfümieren sich und hängen sich Ringe und bunte Fäden oder Wollflöckchen in die Ohren (as V 347ff). Aber nur für ihre Männer. Eine unverheiratete Frau wie du sollte in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend auftreten, wenn es sich schon nicht vermeiden lässt, dass sie das Haus verlässt.“ –
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