Zu dem Telefongespräch trug ich mittlerweile so gut wie überhaupt nichts mehr bei, außer vielleicht das weitgehend sinnfreie Echo seiner jeweils letzten Worte und ein immer schlimmer werdendes Keuchen, das dem Topzustand meiner Lunge und meines spitzenmäßig trainierten Sportlerherzens Hohn sprach.
„Hören Sie“, fiel ich ihm schließlich abrupt ins Wort, als er gerade über die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung wohlproportionierter Beine bei höheren Säugetieren dozierte, „ich muss jetzt wirklich … etwas sehr Wichtiges … ich … muss … ich … muss …“
Panisch drückte ich mit letzter Kraft den roten Knopf.
Die Verbindung war getrennt.
Es war eine Verzweiflungstat, die meine Lage auf lange Sicht höchstens noch komplizierte, doch für den Augenblick war sie meine letzte Rettung gewesen. Wenigstens was mein ohnehin schon arg ramponiertes Ansehen bei Arnold Kreutzer betraf.
Der Buschbrand jedoch hatte während des kurzen Gesprächs Ausmaße angenommen, die jeden weitergehenden Versuch der Rettung sinnlos machten. Niemand kann retten, was nicht mehr zu retten ist.
Wie aus weiter Ferne nahm ich wahr, wie meine gepflegten Finger mit größter Geschicklichkeit und wunderbarem Einfühlungsvermögen einen kleinen, aber um so wichtigeren Punkt meines Körpers stimulierten, bis ich mich plötzlich maunzen und wimmern und stöhnen hörte, wie ich es nicht mehr erlebt hatte, seit ich als Teenager auf die Möglichkeit gestoßen war, durch Ausdauer und einfühlsame Zärtlichkeit den Mann im Haus von eigener Hand zu ersetzen.
Was danach geschah, vermag ich im Einzelnen nicht mehr zu berichten. Ich weiß nur, dass es wundervoll war und dass ich fast nicht glauben konnte, wie gut ich mich gerade in den Momenten höchsten Glückes über die Abwesenheit jenes Mannes hinwegzutrösten mochte, nach dem sich mein Herz zugleich so unbeschreiblich verzehrte.
Meine Mutter hatte mir früh beigebracht, dass kein Mann jemals die Kuh kaufen wird, deren Milch er auch so bekommt. Manchmal dachte ich sogar, dass meine Brüste vielleicht auch deswegen so wunderbar üppig herangewachsen waren, weil ich diesen Sinnspruch mit der Zeit verinnerlicht hatte. Jedenfalls hatte ich mich stets danach gerichtet und meinen Marktwert nach Kräften gesteigert, indem ich an den richtigen Stellen ‚nein!’ gesagt hatte. Natürlich nicht, ohne ein vielsagendes Lächeln hinterherzuschicken, das den jeweiligen Anwärter ermunterte, sich nicht gleich entmutigen zu lassen, sondern lieber sein Angebot kräftig zu verbessern. Das Lächeln gab es natürlich nur, wenn ich tatsächlich Interesse hatte.
Diesmal hatte ich Interesse. Großes sogar.
Arnold war bei aller Kultiviertheit so urwüchsig, dass er mit seinem wuscheligen braunen Haarschopf leicht als kraftstrotzender Steinzeitliebhaber durchgegangen wäre. Ich hätte nur noch das passende Fell finden müssen.
Überhaupt, dass mir Mutters Worte wieder in den Sinn gekommen waren! Auch wenn ich mich stets daran gehalten hatte, so hatte ich doch ihre Wortwahl oft harsch kritisiert. Schließlich war ich keine Milchkuh, also war auch ihr Vergleich mit der Milch, um deren Preis es ging, absolut daneben.
Arnolds unbeabsichtigte Anspielung auf das Euter hatte doch nicht etwa Spuren hinterlassen?
Vielleicht doch. Denn als er sich jetzt formvollendet verabschiedete und ich plötzlich die Aussicht hatte, ihn nach diesem traumhaften halben Tag vielleicht niemals wieder zu sehen, hatte ich plötzlich große Lust, zum ersten Mal überhaupt ein erstes Date nicht an der Haustür zu verabschieden. Sondern unter einem möglichst billigen Vorwand mit reinzunehmen.
Zum Glück für meine momentane Unbescholtenheit siegte meine antrainierte Selbstdisziplin.
Doch sobald er fort und die Haustür ins Schloss gefallen war, warf ich mich im dunklen Hausflur mit dem Rücken an die Wand, trommelte mit den Fäusten dagegen und legte den Kopf weit in den Nacken:
„Duuuuu – völlig verblödete – Halbidiotin“, beschimpfte ich mich selbst, „worauf willst du eigentlich noch warten?“
*
Die Nacht wurde ein einziges unzufriedenes Herumwälzen. Ich wälzte mich von der einen Seite auf die andere, von der anderen auf die eine, und die ganze Zeit über hieß ich mich selbst schonungslos alles mögliche Unfeine, weil ich in so einer Nacht allein war, statt mich schön langsam nach und nach von ihm freilegen zu lassen und dann wohlwollend aber kritisch auszutesten, was der attraktive Herr einer Frau mit Ansprüchen wohl so alles zu bieten hatte.
Der Abend hatte ziemlich genau dem klassischen Schnittmuster eines romantischen Abends entsprochen. Arnold hatte mich mit dem Wagen abgeholt und zu einem exklusiven Restaurant im Taunus chauffiert, das Menü hatte sich auf den überdimensionalen Platten zwar übersichtlich präsentiert, aber doch ganz passabel geschmeckt und beim anschließenden Spaziergang durch die laue Nacht hatte er mir sogar noch zwei oder drei Sternbilder am alles überwölbenden Sternenhimmel erklärt.
Der Spaziergang muss fast schon unglaubliche zwei Stunden gedauert haben, und danach hatte ich ihm fast alles über mich erzählt, was ich selbst wusste. Über ihn erfuhr ich nicht ganz so viel, aber das war nicht wichtig, denn er war ja bei mir. Dass ich kaum herauskam aus dem Erzählen über mich selbst, lag an einer Eigenschaft, die ihn vor den meisten anderen Männern auszeichnete: Er konnte zuhören!
Mehr als jeder Mann vor ihm gab er mir das Gefühl, dass er jedes Wort interessant fand, das über meine Lippen kam. So ganz stimmte das vermutlich nicht, aber vielleicht galt sein Interesse ja auch weniger meinen Worten, als den zart geschwungenen Lippen, die sie formten.
Und wenn?
Allerdings hatte ich mir vorgenommen gehabt, es an diesem Abend zu nicht mehr als ein paar harmlosen Küssen kommen zu lassen. Wenigstens zu den Küssen war es auch gekommen, nicht zuletzt weil ich mich an passender Stelle an einen Satz erinnert hatte, der sich mir – wie es schien – auf ewig ins Gedächtnis gebrannt hatte:
„Möchten Sie mich küssen, Herr Kreutzer?“
Er hatte gewollt – natürlich! –, und ich hatte an seiner ebenso natürlich wie unwiderstehlich wirkenden Technik rasch Gefallen gefunden.
Bei ihm war das Küssen kein Versuch, den Schlund des anderen mit der Zunge zu erkunden. Eher war es ein Vorwand, eine Frau wirkungsvoll zum Schweigen zu bringen und dann ihren Körper von außen mit der ganzen akribischen Sorgfalt abzutasten, die man wohl in wissenschaftlichen Seminaren und Forschungslaboren erlernt. Zwar hatte ich den Eindruck, dass immer mindestens eine Hand zärtlich mein Haupt unter Kontrolle hielt und dafür sorgte, dass mein Mund seinen leidenschaftlich fordernden Lippen nicht entrinnen konnte. Doch die jeweils andere Hand begab sich um so ungenierter auf Wanderschaft und erkundete Berge und Täler meines Körperbaus, so als müsse er noch in dieser Nacht ein maßstabsgetreues Modell meiner makellosen Figur anfertigen.
Ich hatte bei allem brav stillgehalten, oder besser: gerade nicht stillgehalten, sondern engagiert und hungrig nach mehr mitgemacht bei den kleinen Neckereien und Kosereien, mit denen er meinen nach Berührung lechzenden Körper verwöhnte. Schade nur, dass seine Hände sich auffallend oft ausgerechnet dann zurückzogen, wenn die gerade bearbeitete Partie meines Körpers so weit gewesen wäre, dass sie sich sehr gerne für weiteres und noch zudringlicheres Begrapschen zur Verfügung gestellt hätte. Das war eigentlich das einzige, was ich Arnold an diesem Abend vorwerfen konnte: Wenn ein Mann solch goldene Hände hat, dann kann er die höfliche Zurückhaltung in einer romantischen Situation wirklich auch übertreiben.
Nach keinem Mann aus meiner dunklen Vergangenheit hatte sich mein Körper so innig und so schrankenlos gesehnt wie nach diesem, der sich gar nicht alles nahm, was er unter dem Einfluss des Sternenzelts hätte kriegen können. Was ich empfand, erinnerte mich sehr an die überbordenden, mitreißenden Empfindungen, die ich als Teenager erlebt hatte, als ich Schritt für Schritt meine ersten Erfahrungen mit den interessanteren Begleiterscheinungen des Erwachsenwerdens gemacht hatte.
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