Ich blickte mich um. Da waren der Sandstrand, Liegeplätze, zusammengeklappte Sonnenschirme, eine Eis-Diele, ein Hot-Dog-Stand und eine Surfschule, die bereits allesamt geschlossen waren. Wenn wir den Strand verlassen wollten, mussten wir uns einen fahrbaren Untersatz besorgen. Das dafür notwendige Equipment würde ich nur in der Surfschule finden.
Ich sah, dass viele Passanten Richtung Innenstadt flüchteten. Die Polizei war vorrangig mit dem Hotel beschäftigt! Unsere Chance!
„Sally! Dilan! Hier entlang!“, rief ich und packte sie an den Händen.
„Wo willst du mit uns hin?“, fragte Sally.
„Zur Surfschule! Wir laufen!“
„Ich kann nicht laufen!“, protestierte Dilan. „Ich glaube, dass ich mir den Knöchel gebrochen habe.“
„Du musst laufen!“, herrschte ich sie an.
„Nein, ich kann ...“
„Dilan!“, unterbrach ich sie. „Unser Leben steht auf dem Spiel! Du wirst laufen! Und selbst wenn du dir beide Beine gebrochen hättest, wirst du laufen, verstanden?“
„Das Wasser ...“, stöhnte Sally. „Mein ganzer Körper brennt. Mein Kopf schmerzt so furchtbar!“
„Ihr werdet beide durchhalten! Und jetzt los!“, forderte ich sie energisch auf.
Sally strich sich erneut über die blutende Hüfte. Ich konnte ihr ansehen, dass ihr das Laufen schwer fiel, aber es gab keine Alternativen! Momentan stand ihr Körper noch unter Adrenalin und unterdrückte die Schmerzen großteils. Dass sie mit Wasser in Berührung kam, war einerseits gut, weil die Wunde ausgespült wurde, die Hautporen sich zusammenzogen und die Blutung etwas stoppte. Andererseits war es aber schlecht, weil die Verunreinigungen böse Entzündungen hervorrufen konnten. Bestimmt verspürte sie ein brennendes Ziehen im Wundkanal, das sie im Moment verzweifeln ließ. Wir konnten aber nicht hierbleiben und ihre Schmerzen bedauern! Wir mussten uns bewegen, solange sich ihr Körper im Ausnahmezustand befand.
Ich lief los und zog die beiden mit. Dilan humpelte und Sally keuchte. Ungefähr auf Höhe des Geländers, also ein paar Meter vom Ende des Piers entfernt, blieb ich stehen. Die Leute, die oben umherirrten, bemerkten uns nicht. Ich umklammerte die Hände meiner Liebsten und rannte weiter. Diesmal im Sprint quer über den Strand. Sally begann laut zu stöhnen und wäre beinahe hingefallen. Dilan biss die Zähne zusammen und versuchte durchzuhalten. Ich spürte, wie sie sich an mich lehnten.
Nach einer Minute hatten wir die sechzig Meter bis zur Surfschule bewältigt. Ich setzte die beiden auf der vom Pier abgewandten Schattenseite ab. „Ihr wartet hier! Ich bin gleich wieder zurück!“, sagte ich mit erhobenem Zeigefinger.
„Dad!“, rief Dilan. „Die Polizei ist schon da! Wir müssen wieder zurück! Sie werden uns helfen!“
„Niemand wird uns helfen!“, entgegnete ich.
„Mum braucht einen Arzt! Was hast du vor?“
Ich überlegte kurz. „Keine Zeit für Erklärungen! Jetzt wartet ihr hier und verhaltet euch ruhig! Niemand darf uns bemerken!“
„Danny, bist du von allen guten Geistern verlassen?“, schnaubte Sally wütend. „Ich wurde angeschossen und habe Schmerzen! Vor meinen Augen dreht sich alles! Ich bin am Ende! Auf dem Pier stehen Polizei- und Rettungsautos … und du willst nicht zurück?“
Ich hockte mich zu ihr und blickte ihr tief in die Augen. „Vertrau mir Schatz, bitte!“
„Wo willst du mit uns hin, verdammt?“
„Weg von hier! Die Typen, die auf uns geschossen haben, werden nur darauf warten, dass wir zur Polizei gehen!“
„Dann rufen wir sie eben hierher zu uns!“, meinte Dilan.
„Um die Aufmerksamkeit aller auf uns zu lenken?“
„Besser als hier zu bleiben! Hier werden uns die Typen erst recht schnappen! Wenn viele Menschen um uns stehen, werden sie es nicht wagen, auf uns zu schießen!“, sagte Sally.
„Die Typen hatten vor, uns mitten in einem überfüllten Hotel zu erschießen! Was glaubt ihr, warum ich euch ins Gästezimmer geschleppt habe?“, antwortete ich.
„Wer sind diese Typen?“, fragte Sally.
„Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass sie uns töten werden, sobald sie uns finden! Davon wird sie kein Polizist und keine Menschenmenge abhalten! Vertraut mir und verhaltet euch ruhig, bis ich wieder zurück bin!“
Ich begab mich zu einem der Fenster und schlug es mit dem Ellbogen ein. Dann stieg ich hindurch und landete in einem kleinen dunklen Raum, wo Surfbretter, Schwimmwesten, Neoprenanzüge, Kleinteile, Werkzeug sowie Riggs gelagert wurden. Ich kramte nach dem Feuerzeug, das ich gestohlen hatte, trocknete es und nach mehrmaligen Versuchen machte ich Licht, um mich umzusehen. Zuerst suchte ich nach einem Kleiderbügel aus dünnem verchromten Stahl. Dann brauchte ich noch einen Schraubenzieher und einen Bohrer. Den Kleiderbügel fand ich sofort und verstaute ihn in einem Plastiksack. Für das Werkzeug brauchte ich etwas länger. Einen kleinen Flachschraubenzieher und einen Akku-Bohrer entdeckte ich in einem Werkzeugkoffer im Eckkasten. Zusätzlich nahm ich mehrere kleine Bohrer mit, um später nicht zu bereuen, mich bei der Größe verschätzt zu haben. Um die Funktionalität zu testen, setzte ich einen der Metall-Bohrer in den zylinderförmigen Schaft und zog ihn elektronisch fest. Somit hatte ich den Beweis, dass der Akku aufgeladen und einsatzbereit war.
Wichtig war jetzt, dass ich bei der Wahl des Fahrzeugs darauf achtete, dass es älterer Baureihe war. Bei modernen Autos und Nobelmarken wäre der Aufwand viel zu groß und zu auffällig gewesen. Zudem besaßen sie Alarmanlagen, Wegfahrsperren, Computer und vieles mehr! Ich brauchte ein Fahrzeug, dass sich wie früher vom Lenkrad starten ließ und keines, wo ich zuvor die Motorhaube öffnen musste, um die Zündspule kurzzuschließen.
Ich packte das Werkzeug ein und verließ das Gebäude.
„Mum geht es nicht gut!“, sagte Dilan.
Ich hockte mich zu ihr. Tatsächlich, ihr Gesicht war blass und sie konnte kaum noch atmen.
„Sie braucht einen Arzt!“ Dilan's Stimme klang ungewohnt ruhig. Sie hatte Angst, was natürlich verständlich war.
„Komm, Schatz!“, sagte ich und zog sie hoch.
„Dad! Sie braucht einen Arzt!“, betonte Dilan nochmal. „Wir müssen in ein Krankenhaus! Und zwar schnell!“
„Ich weiß!“, antwortete ich und wandte mich wieder Sally zu. „Schatz! Du musst durchhalten! Du schaffst es! Das ist nur eine Fleischwunde! Wir werden dich in ein Krankenhaus bringen, sobald wir hier weg sind! Aber jetzt musst du aufstehen!“
Sie blickte mich verständnislos an. Ihre Augen glänzten und wirkten träge und müde. Das war überhaupt kein gutes Zeichen. Im Moment konnte ich aber nichts für sie tun. Nachdem ich die ersten Schritte mit ihr wagte, stöhnte sie und drohte zusammen zu sacken. Ich ließ sie aber nicht los und hielt sie fest. Dabei sagte mir ihr qualvoller Blick: Du verlangst Unmögliches, Danny! Du wurdest nicht angeschossen, also hast du leicht reden! Der Schmerz raubt dir nicht gerade den Verstand!
Richtig! Es war aber nicht meine Absicht, sie zu quälen. Das wollten andere! Ich konnte zwar nicht dasselbe von ihr verlangen, was ich mir seinerzeit als Soldat freiwillig zumutete, aber in Anbetracht der außergewöhnlichen Situation musste ich sie quälen, weil es keinen anderen Weg gab. Ich wusste, dass es meine Schuld war, dass wir in diesen Schwierigkeiten steckten, aber das spielte im Moment keine Rolle! Wenn wir überleben wollten, dann musste ich dieses Opfer von ihr abverlangen! Darum werde ich auch nicht nachgeben! Ich will, dass die schießwütige Bande keine weitere Gelegenheit bekam, uns noch einmal vor die Waffenläufe zu kriegen.
„Verdammt, Danny!“, stöhnte Sally mit letzter Kraft. „Warum haben die auf uns geschossen? Was wollen die von uns?“
„Später, Schatz, später!“, sagte ich, während ich ungehindert mit ihr weiter marschierte. „Spare dir die Kraft für später!“
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