1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 „Dad, was hast du vor?“, fragte Dilan. „Mein Knöchel ist geschwollen! Ich kann nicht mehr laufen!“
„Es gibt kein Ich kann nicht!“, zischte ich sie wütend an. „Wir können und wir werden! Wir geben nicht auf! Wir laufen jetzt zum Ocean Front Walk!“ Ich zeigte ihr die Richtung. „Etwa siebzig Meter östlich liegt ein Parkplatz, wo wir uns ein Auto schnappen und flüchten werden!“
„Wohin flüchten wir?“, fragte Sally erschöpft. „Und warum nehmen wir nicht unser Auto?“
„Zunächst müssen wir deine Schusswunde versorgen! Dann …“, überlegte ich. „Dann werde ich mir etwas einfallen lassen. Und zu deiner anderen Frage: Wenn diese Schießwütigen gewusst haben, wo wir essen, dann wissen sie auch, wo wir unser Auto abgestellt haben!“
„Waren es Polizisten, die auf uns geschossen haben?“, fragte Dilan. „Weil du den Mann erwürgt hast?“
„Nein, weder waren das Polizisten, noch habe ich den Mann erwürgt!“, entgegnete ich ungehalten.
„Aber warum haben sie auf uns geschossen? Warum wollen sie uns töten?“, fragte sie unter Tränen.
„Ich werde es herausfinden, sobald wir in Sicherheit sind! Kommt jetzt!“
„Willst du deshalb nicht zur Polizei gehen? Weil du ein Verbrecher bist?“
„Ich bin kein Verbrecher! Warum ich nicht zur Polizei gehe, habe ich euch schon erklärt! Und jetzt bitte ich dich, den Mund zu halten und zu laufen!“, herrschte ich sie an.
Mit einem Arm stützte ich Sally und mit dem anderen Dilan. Wir liefen schnurgerade über den breiten Ocean Front Walk, wo überall schaulustige Passanten standen und das Geschehen am Pier beobachteten. Sie bemerkten uns natürlich und starrten fragend herüber. Sie wussten, dass wir mitten im Geschehen waren und dabei verletzt wurden. Sie wussten glücklicherweise nicht, dass wir das Ziel des Anschlags waren. Ich hörte, wie uns ein paar Leute hinterher riefen, aber ich ignorierte sie und lief einfach weiter. Wir mussten uns beeilen, weil sie mit Sicherheit der Polizei erzählen werden, dass wir hier vorbeikamen.
Als wir kurz vor dem Parkhof waren, knickte Sally stöhnend zusammen.
„Lauf!“, rief ich zu Dilan. „Lauf zum Parkplatz! Ich komme mit Mum nach!“
„Okay!“, antwortete sie und humpelte neben der hüfthohen Steinmauer weiter. Mich verblüffte, dass sie diesmal keine unnützen Fragen stellte. Sie wusste bestimmt, dass sie darauf keine vernünftige Antwort bekommen hätte.
Sally war bereits so schwach, dass sie nicht mehr in der Lage war, sich alleine auf den Beinen zu halten. Ohne lange zu überlegen griff ich ihr durch die Beine, zog ihren Oberkörper über meinen Nacken und schulterte sie. Dann lief ich Dilan hinterher. Bevor ich den Parkbereich passierte, vergewisserte ich mich, ob uns jemand folgte. Auf dem Parkplatz fand ich nur wenige Fahrzeuge, die im Schatten standen und für einen Diebstahl geeignet waren. Zum Großteil standen hier Ford, Toyota, BMW, Mercedes und Buiks. Als ich schon fast die Hoffnung aufgab, entdeckte ich in der linken hinteren Ecke einen Jeep Cherokee, 90-iger Baureihe. Perfekt!
„Dilan! Der dunkelrote Cherokee! Dorthin!“, deutete ich und lief los. Wir mussten uns beeilen, denn je länger ich im Licht stand, desto größer war die Gefahr, dass ich jemanden auffiel. Und ein Mann mit einer Frau auf den Schultern würde mit Sicherheit Fragen aufwerfen. Beim Fahrzeug angekommen, setzte ich Sally neben dem linken Vorderrad ab.
„Wie geht’s dir, Schatz?“, fragte ich.
Sie war bereits so schwach, dass sie nicht mehr antworten konnte.
„Dilan!“, rief ich wieder. „Kümmere dich um Mum! Sprich mit ihr! Sie darf nicht einschlafen!“
Sie nickte hektisch und hockte sich neben sie.
Ich kniete mich zur Fahrertür und verbog den Kleiderhaken so, dass ich ihn zwischen Autoscheibe und Dichtungsgummi schieben konnte, um den Knopf der Verriegelung zu erreichen. Nach ein paar Versuchen klappte es und konnte den Haken über den Türknopf drücken und ihn hochziehen. Voilà!
„Dilan, setze Mum auf die Rückbank!“, forderte ich sie auf. Sie nickte.
Ich setzte mich zwischenzeitig ans Steuer, holte den Akkubohrer aus dem Plastiksack und bohrte das Zündschloss auf Schlüssellänge auf. Der Sinn war es, die Zapfen im Inneren des Schlosses komplett zu zerstören. Nach getaner Arbeit zog ich den Bohrer wieder heraus, steckte den Schraubenzieher in das Schloss und verdrehte ihn. Der Motor startete ohne Probleme. Dann verdrehte ich das Lenkrad bis die Lenkradsperre einrastete und verriss es mit aller Kraft in eine beliebige Richtung. Beim vierten Versuch brach die Verriegelung. Jetzt ließ sich das Vehikel bedenkenlos steuern.
„Seid ihr soweit?“, rief ich.
„Gleich!“, antwortete Dilan.
Ich stieg nochmal aus und suchte nach einem Verbandskasten. Im geräumigen Heck wurde ich neben einem Kabelset und einer Kiste mit roter und grüner Folie fündig. Hektisch holte ich ein paar Kompressen sowie einen Verband heraus und eilte zu Sally.
„Hilf mir Mum's Bluse hochzuziehen!“, sagte ich.
Das war gar nicht so einfach, weil die Bluse nass und mit Blut getränkt war, sodass sie regelrecht auf ihrer Haut klebte. Ich beschloss die Bluse komplett auszuziehen. Anschließend betrachtete ich die Eintrittswunde im linken unteren Rückenbereich. Der Wundgröße nach schätzte ich das Kaliber auf neun Millimeter – jenes Kaliber, das neunzig Prozent aller leichten Maschinenpistolen hatten. Dann suchte ich ihren Bauch nach der Austrittswunde ab, fand aber keine. Vermutlich Steckschuss. Scheiße! Ohne Arzt konnte ich nicht feststellen, wo das Projektil steckte und welchen Schaden es anrichtete.
„Dad!“, brüllte Dilan hysterisch und zeigte auf eine blutende Stelle neben dem rechten Schulterblatt. „Da ist noch eine Wunde!“
Verdammt, auch das noch! Sie wurde ein zweites Mal getroffen! Wieder drehte ich sie um und suchte nach einer Austrittswunde im Brustbereich. Auch hier kein Austritt. Wenn sie Glück hatte, verhinderte das Schulterblatt größeren Schaden.
„Okay!“ nickte ich und begann augenblicklich die Wunden zu versorgen. Ich reinigte sie, drückte die Kompressen fest auf und fixierte sie mit dem Verband. Sally keuchte vor Schmerzen und biss die Zähne fest zusammen. Solange sie noch auf Schmerzen reagierte, war es ein gutes Zeichen.
Während ich sie versorgte, hielt Dilan ihren Kopf hoch. Plötzlich blickte sie überrascht auf ihre Hände, auf denen sie erneut frisches Blut entdeckte. Sie untersuchte hektisch ihren Kopf. Dann fing sie leise zu wimmern an. „Mum blutet auch am Kopf!“
Wortlos beugte ich ihren Kopf nach vorne, um mir die Stelle mit Hilfe der Innenbeleuchtung genauer anzusehen. Dazu legte ich ihre langen Haare auf die andere Seite und fand eine dritte Schusswunde, unmittelbar hinter ihrem linken Ohr. Oh Gott, Kopfschuss! Jetzt brauchte ich Hilfe! Das bekam ich alleine nicht in den Griff! Egal, was ich vor hatte, musste ich vorrangig dafür sorgen, dass Sally schnellstens medizinisch versorgt wurde.
„Wird Mum sterben?“, fragte Dilan.
„Nein.“, antwortete ich besonnen, obwohl ich im Inneren vor Angst bebte.
„Aber sie wurde am Kopf getroffen!“, flennte Dilan.
„Mum wird nicht sterben!“, sagte ich mit Nachdruck.
„Was hast du jetzt vor?“
„Wir suchen einen Arzt!“
„Sie muss in ein Krankenhaus, Dad! Sie muss operiert werden! Sofort!“
Ich holte kommentarlos mein Handy aus der Hosentasche, das zum Glück noch einwandfrei funktionierte und aktivierte den eingesetzten Chip, der die Gespräche in ein spezielles Unterkanal-Funknetz leitete. Ich rief meinen Freund Frank Silverstein an.
„Frank?“, fragte ich, nachdem eine männliche Stimme abhob.
„Mit wem spreche ich?“
„Danny Graham!“
„He Bruder, lange nicht gehört!“, antwortete er überrascht. „Welch eine Freude!“
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