Abbildung 20: Blick auf ein Dorf in den Waldkarpaten.
Am 3. Oktober, früh um vier Uhr, fahren wir los und treffen gegen 17.00 Uhr in Frýdek-Místek, bei Renates Freunden Toni und Mascha, ein. Von hier aus geht es am folgenden Tag, um acht Uhr, weiter, durch eine wundervolle Landschaft: Rechts die Niedere Tatra, links der Autostraße, in der Ferne, die weißen Gipfel der Hohen Tatra. Noch nie hatten wir solch einen Anblick erleben können, mit aller Macht zieht es uns bei herrlichstem Sonnenschein in die Berge. Der Grenzübergang ist erst am nächsten Tag vorgesehen, also haben wir noch einige Stunden Zeit für Štrbské Pleso und eine kurze Wanderung in der Hohen Tatra.
Dann, während der Weiterfahrt, ändert sich das Wetter. Es ist bitter kalt und regnerisch, bald auch schon stockdunkel. Geplant haben wir, kurz vor der Grenze im Auto zu übernachten. Doch nun scheuen wir davor zurück, sicher würden wir eine ganz üble Nacht durchzustehen haben und völlig durchgefroren aufwachen oder gar nicht erst eingeschlafen. Also begeben wir uns auf die Suche nach einer Unterkunft, und wir finden das Hotel „Jalta“, an einem See in Michalovce, etwa 40 Kilometer entfernt vom Grenzübergang.
Als wir das Hotelrestaurant betreten wollen, verwehrt uns die Kellnerin den Eingang: „Rifles njet!“ Jeans, sagt sie, wären nicht erlaubt. Nur mit Mühe und Not können wir in der Lobby einen Kaffee trinken. Die laute Tanzmusik durch eine ungarische Gruppe stört unseren Schlaf kaum, doch zweimal werden wir durch das Klingeln des Telefons geweckt. Niemand meldet sich.
144 Kronen haben wir zu entrichten, als wir gegen sieben Uhr das Hotel verlassen und die Fahrt zum Grenzübergang Ushgorod aufnehmen. Die Kontrolle verläuft reibungslos, man erwartet uns, doch es gibt keine Unterlagen und Talons wie üblich, nur eine Routenanweisung für die offizielle Autotouristenstrecke über Lwow nach Tschernowzy. Wir würden alles Notwendige für die Weiterreise in Tschernowzy erhalten, teilt uns der Grenzoffizier mit: Unsere Route wäre geändert worden, wir müssten von Odessa nach Taschkent abfliegen und nicht von Kiew. Dann sind noch unsere Äpfel gegen ein Protokoll abzuliefern, und wir können den LADA starten.
Vor uns liegt eine wunderbare Fahrt durch die Waldkarpaten, doch mit einem vorgeschriebenen Umweg von etwa 80 Kilometer: nach Nordost bis Lemberg, dann südwärts über Ternopil nach Chernowitz, Moldawien. Bei Stryj, am Bug, von der Touristenstrecke nach Süden abzuweichen, quer durch die Waldkarpaten zu fahren und über Iwano-Frankiwsk das ukrainische Chernowitz zu erreichen, ist uns verwehrt, weil dieser Weg nicht zu den offiziellen Routen zählt.
Abbildung 21: Ziehbrunnen in Moldawien, der Storch als nationales Symbol der Fruchtbarkeit.
Was hat mich dazu verleitet, von der Hauptstrecke abzuweichen und durch die bewaldeten Hügel der Karpatenlandschaft zu fahren. Es war sicher der Gedanke an Christine, die mit ihrer gesamten Familie Anfang des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat vertrieben worden war. Als das Gebiet nach dem Wiener Kongress zum Österreichischen Kaiserreich gehörte, waren viele Deutsche dahin ausgewandert, unter ihnen auch die Vorfahren meiner Tante. Im Ersten Weltkrieg stark umkämpft, fiel das Gebiet an Polen und vor dem zweiten Weltkrieg durch die geheimen Stalin-Hitler-Vereinbarungen an Russland. Christines Familie wurde durch die Nazis in das damalige Wartheland, nach Łodz, umgesiedelt, wo ein Bruder meiner Mutter die junge Frau in den ersten Kriegsjahren heiratete.
Wie gefährlich die Abkürzung der Fahrt ist, wird uns erst viel später klar. Doch wir haben Glück und müssen nur einmal, in Iwano-Frankiwsk, mit einer halsbrecherischen Fahrt durch tiefen Schlamm, einem Fahrzeug der ukrainischen Verkehrspolizei in weitem Bogen ausweichen. Wir fahren durch eine einmalig schöne Landschaft und werden nie abgestoppt. Einmal wundert sich ein alter Bauer, der mit seinem Traktor auf dem Felde der Kolchose tätig ist, über den LADA und unser Autokennzeichen. Woher wir kämen, will er wissen, und in aller Freundlichkeit wünscht er uns eine gute Reise: „Хорошо ездить!“
Abbildung 22: Rast in einer Gaststätte in Moldawien.
Beide sind wir bester Laune, aber die uns umgebende Landschaft ist auch zu schön, obwohl der Himmel über den Waldkarpaten sich mit einer Wolkendecke bedeckt hat. Wir haben rundum einen klaren Blick auf die Höhen und Täler, oft auch auf die einsamen Dörfer Wolhyniens. Aus einem stammt die Familie meiner Tante. Renate ist von der Landschaft gefangen. Oft halten wir an, das eine Mal bei einer Bäuerin, die neben einer alten ausgedienten Badewanne voller Pilze hockt, Hallimasch, ein Pilz, den wir in der Dresdner Heide immer stehen ließen. Doch in der Slowakei, Polen und in der Ukraine wird junger Hallimasch in kleine Gläser gefüllt und eingesäuert. Schon einige Mal haben wir ihn als kleine Zuspeise zu einem Wodka - „Cто грамм“, hundert Gramm - serviert bekommen.
Wir bummeln in niedrigem Tempo durch die Gegend und wundern uns, warum es plötzlich so stockfinster ist. Wir haben den 05. Oktober, eingefangen von der Landschaft hatten wir die zwei Stunden Zeitunterschied völlig übersehen.
Unser Ziel ist ein mittelgroßes Hotel in Tschernowzy, ein anderes, als uns in Ushgorod angegeben worden war. Ein Wegweiser führt uns zum Intourist-Hotel „Bukowina“. Und tatsächlich, hier ist man auf unsere Ankunft vorbereitet. Die Ukrainerin an der Rezeption kennt unsere Namen, doch sie hat eine betrübliche Mitteilung: „Keine Marschroute! Weiterfahren bis Odessa, Hotel „Krasnaja“, dort neue Dokumente von INTOURIST!“
Renate macht ein etwas enttäuschtes Gesicht, solche Unsicherheiten und Fahrten ins Blaue sind ihr nicht eben angenehm, doch ich tröste sie damit, dass uns das sowjetische Reiseunternehmen bisher noch nie enttäuscht hat.
Beim Frühstück im Hotelrestaurant begegnen wir einem DDR-Bürger aus Berlin, Mitglied eines Vortrupps für den Bau der Erdöltrasse. Er wird auf uns aufmerksam, weil er plötzlich auf Landsleute stößt und sie an der Sprache erkennt. Mir fehlt beim Frühstück etwas Wechselgeld, sofort eilt er hinzu und reicht mir die fehlenden 20 Kopeken.
Erst relativ spät, gegen Mittag, starten wir zur Weiterfahrt von der Ukraine, über Moldawien nach Odessa. Innerlich fühlen sich Renate und ich aufgrund der Umstände immer noch etwas wie auf der Anreise in den eigentlichen Urlaub, so völlig ohne die offiziellen Reisedokumente und mit der Unsicherheit, ob wir von Odessa oder von Kiew den Flug nach Mittelasien starten werden. Doch das hindert uns nicht, uns an der Fahrt durch die Ukraine und Moldawien zu erfreuen. Wir freuen uns auf Odessa und sind guter Hoffnung, dass wir dort endlich unsere offizielle Reiseroute und die Voucher für Mittelasien erhalten werden.
Auf der breiten Überlandstraße, rechts und links begleitet von Weinbergen, nähern wir uns Kischinjow, der Hauptstadt von Moldawien. Immer wieder führt uns der Weg durch kleine Dörfer, vorbei an Bauernhütten und Ziehbrunnen, die mit Schnitzereien und farbigen Ornamenten geschmückt sind. Der Storch, ein Wahrzeichen des Landes, wiederholt sich als stilisiertes Symbol in allem Dekor. Der schlanke Hals der kolossalen Holzstatue eines Storches, mit Kopf und Schnabel, dient einem Ziehbrunnen als mehrere Meter langer Schwengel. Unten, an der Ziehkette, hängt der Schöpfeimer, ebenfalls hölzern.
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