„Wo, um Gottes Willen, liegt Rangeley?“
„In Maine, hoch oben im Norden von New York. Tiefste Provinz, aber wunderbare Natur. Da war ich glücklich. Da gab es auch den Indian Summer . Dafür ist der Landstrich ja berühmt. Alice hatte die Sache perfekt eingefädelt. Erst nachdem sie mich zu Robert gebracht hatte, erzählte sie Hunter von der Geschichte, natürlich ohne Robert zu erwähnen, er sollte nicht wissen, wo ich war. Nur dass es da jemanden gab, der mich adoptieren wollte, hat sie ihm gesagt. Hunter fiel ein Stein vom Herzen, er hat den Papierkram mit den Behörden genial hingeeiert, frag mich nicht, wie er das geschafft hat, und alles war paletti. Und sie selbst tauchte bei Robert nie mehr auf und löschte meine Erinnerung an sie. Wie gesagt, ich war ja damals erst ein paar Monate alt. Robert war mein Vater, das war für mich sonnenklar. Er hatte Alice hoch und heilig versprechen müssen, mir kein Sterbenswörtchen zu verraten. Mein Vater sei unberechenbar und ein Monster, er hätte mich beinahe umgebracht, hat sie ihn gewarnt. Und als ich älter war und was über meine Mutter wissen wollte, hat er so allerlei erfunden, um nicht mit der Wahrheit herauszurücken. Heute denk ich manchmal, Robert hatte Angst, dass ich erfahren könnte, wer mein wirklicher Vater ist. Er dachte, ich dreh dann durch und bring ihn um. Der kannte mich schließlich. Vor ein paar Wochen ist er gestorben.“
„Kraft hast du, Patrik, das muss man sagen. Und noch mehr innen als in den Muskeln. Was hat Robert eigentlich gemacht?“
„Er war Ornithologe.“
„Ist ja toll! Sagt dir Olivier Messiaen was? War ein französischer Komponist.“
„Na klar! Robert hat Messiaen bewundert. Wir haben seine Musik oft zusammen gehört, eine Musik nur aus Vogelstimmen, verrückt. Einmal haben wir draußen vor unserem kleinen Landhaus im Garten gesessen und im Radio Oiseaux exotiques gehört und die Vögel haben dazu gepfiffen. Wir haben uns nicht eingekriegt vor Lachen. Ist so ziemlich das Einzige, was ich an klassischer Musik kenne. Was ist eigentlich dein Lieblingskomponist, du bist doch vom Fach?“
„Schumann.“
„Kenn ich nicht. Musst du mir bei Gelegenheit mal vorspielen. Mit Robert war ich viel in der Natur unterwegs, das war fantastisch. Wir durchstreiften wilde unberührte Landschaften, strichen durch endlose Wälder, die mir bald zur Heimat wurden. Wir schliefen in supereinsamen Hütten oder fuhren im Boot wochenlang auf Flüssen und Seen dahin und zelteten am Ufer und machten Lagerfeuer. Da gab es Murmeltiere, über die ich manchmal so lachen musste, als wären sie Clowns. Und Alpakas und Puffins, die aussehen wie kleine vorwitzige Papageien. Am Atlantikstrand beobachteten wir Krabbenpanzer die hintereinander hermarschierten wie ne römische Legion beim Angriff. Da hab ich mich natürlich eingereiht und lauthals dem Feind gedroht. Auch die Namen der Gräser kannte ich bald, sogar die lateinischen Namen. Das Wunderbarste aber, was ich dort erlebte, war ein Schwarm aus tausenden von Vögeln. Wie die alle durch die Luft sausten, gleichzeitig von einer Bewegung ergriffen – eine riesige pulsierende Wolke aus schwarzen Punkten … werd ich nie vergessen. Noch heute bin ich, so oft ich kann, irgendwo draußen in der Natur. Die Zeit mit Robert hat mich geprägt!“
„Und jetzt hockst du als Naturvogel für gewöhnlich in deinem Keller in Harlem rum, das widerspricht sich doch, oder?“
„Robert hat mir nicht nur was von Vogelstimmen beigebracht, Frederik, sondern auch von Gerechtigkeit und Freiheit.“
„La Liberté!“, rief Frederik und stieß Patrik albern in die Seite.
„Robert war ein waschechter Linker, wenn du es genau wissen willst. Und vormals Professor für Ornithologie an der Columbia University in New York. Seine Kollegen haben gegen ihn gestänkert und ihn gemobbt, und die Universität hat ihn schließlich vor die Tür gesetzt. Das Thema Freiheit ließ ihn nicht los. Oft erzählte er mir von Thoreau und seinem Widerstand gegen die korrupte Staatsmacht und die Sklavenhalterei. Und natürlich von Wilhelm Reich, einem Schüler Freuds, dem Sexual- und Naturforscher, der schon 1933 die Massenpsychologie des Faschismus schrieb und deswegen aus der Kommunistischen Partei Deutschlands ausgeschlossen wurde. Reich glaubte an den befreiten Menschen und entdeckte eine alles umfassende Energie, die er Orgon nannte. Deshalb war er sogar mit Einstein in Kontakt. Der aber wollte von der Sache nichts wissen. Reich haben sie auch ins Kittchen gesteckt wie Thoreau. Und Reich ist dort gestorben, kurze Zeit später an einem Herzinfarkt. Er hatte bei uns praktisch um die Ecke gewohnt, wo er in der Natur und in seinen Labors forschte. Das alles hat Spuren in mir hinterlassen. Freiheit und Gerechtigkeit spielen auch für den Hacker eine große Rolle! We do not forgive. Expect us !“
„Eine Sache haben wir gemeinsam, Patrik!“
„Und die wäre?“
„Du bist genauso besessen von dem, was du tust. Aber eins versteh ich noch nicht. Warum bist du am Christmas Eve mit Alice vor Jacks Haus gestanden, als sein Sarg rausgetragen wurde? Du hattest doch keine Ahnung von ihm.“
„Letzten September hat Alice mit mir Kontakt aufgenommen. Völlig überraschend, ich bin aus allen Wolken gefallen. Robert hatte ihr meine Adresse gegeben. Alice und ich haben uns ein paar Mal getroffen. Heimlich in irgendwelchen Cafés. Sie wirkte gehetzt und war manchmal ganz verzweifelt und hat geweint. Sie hat mir die ganze Geschichte erzählt, stell dir vor. Irgendwas schien sie umzutreiben. Offenbar war es Hunter, vor dem sie Angst hatte. Aber Konkretes hab ich aus ihr nicht rausgekriegt. Nur einmal erwähnte sie, dass sich Hunter in den letzten Monaten böse verändert habe. Er sei unbeherrscht und schnell aggressiv geworden und habe sie bei jeder Kleinigkeit angeschrien. Dann wieder sei er aus heiterem Himmel in Weinkrämpfe verfallen, was sie so an ihm noch nie erlebt habe. Hunter sei ein anderer geworden, Dr. Jekyll und Mister Hyde, jawohl, so hat sie sich ausgedrückt. Durch Zufall hat er ein Telefonat von Alice und mir mitbekommen und sei völlig durchgedreht. Er hat sie an die Wand gedrückt und ihr gedroht, sie solle den Kontakt zu mir sofort abbrechen, sonst könne er für nichts garantieren. Kein Wunder, dass sie panische Angst vor ihm bekommen hat. Aus Hunter sei ein Monster geworden, ich solle ihr helfen, hat sie mich angefleht.“
„Das glaub ich nicht. Ich kenne Alice besser als du, so was würde sie nie sagen. Jack ein Monster, dass ich nicht lache, Jack war ein Gentleman. Auch ihn kenn ich wahrlich besser als du. Und außerdem, Jack und Alice waren ein Herz und eine Seele, irgendwie symbiotisch all die Jahre. Da fiel kein böses Wort.“
„Du musst es ja wissen“, schrie Patrik auf einmal. „Ob du mir nun glaubst oder nicht, geht mir am Arsch vorbei!“
Frederik schwieg und schaute abwesend ins Schneegestöber, das vor den Halogenscheinwerfern tobte. Mittlerweile war es stockfinster geworden.
„Vor drei Tagen, ich hatte ein paar Wochen nichts mehr von ihr gehört, rief Alice wieder an“, fuhr Patrik nach einer Weile fort. „In der Nacht nach Christmas Eve, so gegen zwei. Sie sagte nichts, weinte nur, sie nannte noch nicht mal ihren Namen. Natürlich wusste ich sofort, wer am Telefon ist. Ich hab mich auf die Socken gemacht. Und dann haben wir uns getroffen, während Hunters Sarg aus dem Haus getragen wurde, nachts auf der Straße in Eiseskälte am Washington Square Park. Alice, du und ich.“
„Verdammt, wir rutschen, gleich passiert was!“, schrie Frederik und krallte sich ins Sitzleder.
„Scheiße, wir sind mitten im Blizzard!“ Patrik versuchte den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Dann aber brach er aus, kam von der Straße ab und fegte ins weiße Nichts.
Читать дальше