Einerseits folgt die Logik qualitativer Forschung einem Offenheitspostulat, um die Sinnzusammenhänge des untersuchten Feldes rekonstruieren zu können. Der Annahme folgend, dass qualitative Forschung dann von Nöten ist, wenn bestehende Theorien nicht für einen Untersuchungsgegenstand passen, muss der Forscher in einer gewissen Art und Weise unvoreingenommen an die Daten herantreten und außerhalb der Logik der bestehenden Theorien betrachten, um die Logik des Untersuchungsfeldes aufzuspüren – damit die Logik „emergieren“ kann.
Andererseits unterliegt der qualitative Forscher, wie jegliche anderen Menschen, der konstruktivistischen Prämisse der Voreingenommenheit (vgl. Kelle, 2011). Mit anderen Worten, jeder Mensch kann seine Welt – auch seinen Untersuchungsgegenstand - nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrung und seiner entwickelten theoretischen Begriffsnetzwerke betrachten – der Mensch ist immer theoretisch sensibilisiert (vgl. auch Kapitel 3.1.1). Eine vollkommene Offenheit ist damit überhaupt nicht möglich. Dieser Punkt wird auch bei Glaser und Strauss deutlich gemacht: „Selbstverständlich nähert sich der Forscher der Realität nicht als einer tabula rasa. Er muss eine Perspektive besitzen, die ihm die relevanten Daten (wenn auch noch unscharf) und die signifikanten Kategorien aus seiner Prüfung der Daten zu abstrahieren erlaubt.“ (Glaser & Strauss, 2008, S. 21).
In der Frage nach dem Verhältnis von Offenheit und theoretischer Sensibilität wird für diese Untersuchung eine Position bezogen, die weitgehend mit der von Strauss und Corbin (1996) übereinstimmt18F[19]. So schreiben Anselm Strauss und Juliet Corbin: „Während der Untersuchung selbst sollte es auch unbedingt Forschungsanregungen auf der Grundlage der Literatur (aber nicht nur der fachbezogenen) und ein echtes Wechselspiel zwischen Lesen von Literatur und Analysieren von Daten geben. Letztendlich lesen und benutzen wir veröffentlichtes Material in allen Phasen des Forschungsprozesses“ (Strauss und Corbin, 1996, S. 38)19F[20].
Strauss und Corbin verorten in der theoretischen Sensibilität einen wichtigen Punkt der kreativen Leistung eines Forschers: „Theoretische Sensibilität stellt einen wichtigen kreativen Aspekt der Grounded Theory dar. Sie beruht auf der Fähigkeit, nicht nur persönliche und berufliche Erfahrung, sondern auch die Literatur phantasievoll zu nutzen. Sie befähigt den Analysierenden, die Forschungssituation und die damit verbundenen Daten auf neue Weise zu sehen und das Potential der Daten für das Entwickeln einer Theorie zu erforschen.“ (ebd., S. 27)20F[21].
Die Position – sich durch bestehende Theorien sensibilisieren zu lassen – wird dann in einer wissenschaftlichen Untersuchung problematisch, wenn die Theoriebezüge undeutlich dargestellt werden. Zum einen, weil nicht differenziert wird, was fremdes Gedankengut ist und welche Elemente der entwickelten Theorie innovativ sind. Zum anderen, weil dadurch Schwierigkeiten entstehen die aus empirischen Studien generierten Theorien in bestehende Diskurse zu integrieren.
Um beiden Problemen zu begegnen, werden in den theoretischen Grundlagen der beiden Studien jene Theorien angeführt, die wesentlich zur Genese der jeweiligen Ergebnisse beigetragen haben. Außerdem wird – sofern dies sinnvoll erscheint – in der Darstellung der Ergebnisse an konkreten Ankerbeispielen gezeigt, inwiefern bestehende theoretische Konzepte die Entstehung der jeweiligen Kategorien beeinflusst haben. In der Tat muss festgestellt werden, dass zum Teil extensiv auf bestehende Theorien zurückgegriffen wird, das Gesamtergebnis – also die Kombination verschiedener theoretischer Aspekte – trotzdem als innovativ einzustufen ist, da insbesondere die Ergebnisse in Kapitel 4.2 zumindest in der Sportpädagogik einen neuen Aspekt des Lehrerhandelns erschließen.
Insofern sind die theoretischen Grundlagen in den Kapiteln 3.1 und 4.1 so zu verstehen, dass sie die Sicht auf die Daten gefärbt haben und so die „Brille“ des Blicks in der Auswertung gefärbt wurde. Jedoch sind diese Theorien nicht als subsumptionslogische Vorlagen verwendet worden. Bruno Hildenbrand betont, dass die Kenntnis bestehender Theorien essentiell ist, der Umgang mit ihnen jedoch einigermaßen „respektlos“ erfolgen muss, damit es sich bei dem Ergebnis letztendlich um eine gegenstandsverankerte Theorie handelt (Hildenbrand, 2008, S. 33).
Für beide Studien gilt, dass die theoretischen Bezugspunkte erst im Verlauf der Auswertung vervollständigt wurden. Der Beginn der gesamten Untersuchung war stark durch eine bildungstheoretisch-phänomenologische „Brille“ gefärbt wie sie in den Kapiteln 3.1.1 und 3.1.2 dargestellt wird. Im Verlauf der Auswertung haben sich jedoch die dort verhandelten Kategorien und angenommenen Zusammenhänge als unzureichend erwiesen, um die in den Daten beobachteten Phänomene theoretisch konzeptualisieren zu können. Von daher wurde in jenen Phasen des Forschungsprozesses, die in Abbildung 1 als Theorie bezeichnet wurden, im späteren Verlauf der Auswertung verschiedene theoretische Perspektiven „probiert“, um die Modelle der Ergebnisse in den Kapiteln 3.2 und 4.2 zu entwickeln. Jene Perspektiven externer Theorien, die die Ergebnisse zentral beeinflusst haben, werden in den theoretischen Grundlagen zu der jeweiligen Studie angegeben – ob diese theoretischen Grundlagen subsumptionslogisch oder anregend verwendet wurden kann nur die Lektüre der Ergebnisse vermitteln.
Computerunterstützte Auswertung
Die Auswertungsarbeit wurde durch die Software Atlas.ti (Version 7) unterstützt. Auf die Ausgestaltung dieses Merkmals wird im Rahmen der Datenaufbereitung in Kapitel 2.1.3 eingegangen.
Forschungswerkstätten und Interpretationsgruppen
Als letztes Merkmal für GTM-Untersuchungen wird angeführt, dass die laufende Arbeit in Forschungswerkstätten und Interpretationsgruppen diskutiert werden soll (Riemann, 2011; Strauss, 1998). Hintergrund ist vor allem, dass ein Abgleich verschiedener Lesarten erfolgen kann und darüber zum einen einseitige Interpretationen aufgelöst werden können und zum anderen auch ein höherer Grad an Differenzierung in der Entwicklung der Theorie erreicht wird.
In der vorliegenden Untersuchung wurden verschiedene (Teil-)Ergebnisse in unterschiedlichen Foren diskutiert – verschiedene Kolloquien an der Universität Hamburg, einer internen Forschungswerkstatt des Arbeitsbereichs Bewegung, Spiel und Sport der Universität Hamburg, im Rahmen von Vorträgen und Gesprächen auf Tagungen und Workshops. Außerdem waren über den Zeitraum von einem Jahr zwei studentische Hilfskräfte an der Auswertung beteiligt.
Nachdem nun verschiedene Merkmale und deren Anwendung in der vorliegenden Untersuchung dargestellt wurden, werden im Folgenden die in der Untersuchung eingesetzten Kodierverfahren dargestellt.
2.1.2 Kodierverfahren der GTM und die Anwendung in den Studien
Trotz so mancher Differenzen zwischen den Gründervätern Glaser und Strauss gibt es auch Gemeinsamkeiten – so z.B. hinsichtlich der Kodierverfahren: „Mein Kollege Barney Glaser, der die qualitative Analyse im Stil der Grounded Theory mitentwickelt hat, lehrt und benutzt diesen Analysemodus im Prinzip genau so, wie ich das auch tue.“ (Strauss, 1998, S. 23). Während Glaser (1978) zwischen gegenstandsbezogenem und theoretischem Kodieren unterscheidet, unterscheiden Strauss und Corbin (1996) das offene, axiale und selektive Kodieren21F[22]. Für die Untersuchung wird die Aufteilung von Strauss und Corbin verwendet, wobei die Überlegungen Glasers bei der Umsetzung des jeweiligen Verfahrens mit eingeflossen sind.
Einerseits stehen die Kodierverfahren in einer gewissen chronologischen Reihenfolge, andererseits wird zu keinem Zeitpunkt ausschließlich ein Verfahren angewendet. Üblicherweise beginnt eine GTM-Untersuchung mit dem offenen Kodieren, um Ereignisse zu benennen, daraufhin wird mit dem axialen Kodieren fortgefahren, um die theoretischen Verbindungen zu verdichten. Aus dem entstehenden theoretischen Netz wird dann letztendlich ein Zentrum ausgewählt, dass dem Urteil des Forschers zufolge das größte Integrationspotential hat.
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