Das regelmäßige Zurückkehren zu den Daten hat zum einen die Funktion, die Theorie weiter zu entwickeln – bspw. um Kontrastfälle aufzusuchen -, zum anderen sollen die entwickelten theoretischen Annahmen anhand der empirischen Daten validiert / überprüft werden.
Abbildung 1- Forschung als iterativer Prozess in der GTM (nach Mey und Mruck, 2011b)
Kodieren mit dem Ziel der Theoriebildung
„Die Grounded Theory basiert auf einem Konzept-Indikator-Modell, mit dessen Hilfe eine Reihe von empirischen Indikatoren nach Konzepten kodiert werden. Empirische Indikatoren sind konkrete Daten wie Verhaltensweisen und Ereignisse, die in Dokumenten und in Interviewtexten beobachtet oder beschrieben werden. Diese Daten sind Indikatoren für ein Konzept, das der Forscher zunächst vorläufig, später aber mit mehr Sicherheit aus den Daten ableitet.“ (Strauss, 1998, S. 54).
Das Konzept-Indikator-Modell basiert auf Überlegungen Glasers (1978) und präzisiert den Übergang von den Daten zu bereits theoriehaltigen Konzepten (vgl. Abbildung 2). Theoriehaltig bedeutet hier, dass Annahmen darüber aufgestellt werden, wie verschiedene Ereignisse (Indikatoren) auf eine bestimmte Art und Weise miteinander in Verbindung stehen. Dabei kann ein Indikator auf mehrere Konzepte hinweisen (Mehrfachkodierung einzelner Fälle bzw. Segmente); anders herum setzt sich ein Konzept zumeist aus mehreren Indikatoren zusammen bzw. wird erst durch die verschiedenen Indikatoren ausdifferenziert.
Z.B. deutet der Satz einer Lehrkraft „Wo liegt denn euer Problem?“ einerseits auf das Konzept Diagnostik hin, da der Lehrer von den Schülern Informationen über deren Arbeitsstand einholt. Andererseits wurde das gleiche Segment in der Untersuchung unter dem Konzept Aufforderung zum Analysieren klassifiziert.
Durch die zunehmend dichtere Ausdifferenzierung der Konzepte und deren Beziehungen zueinander – mittels verschiedener Kodierverfahren (vgl. Kapitel 2.1.2) -, wird die Grounded Theory entwickelt. Konzepte sind dabei als kleinere Einheiten der gesamten Theorie zu verstehen.

Abbildung 2 - Konzept-Indikator-Modell (nach Mey und Mruck, 2009; Strauss 1998)
Ein wichtiges methodisches Element während des gesamten Forschungsprozess nach der GTM ist das sogenannte Memoing. Memoing bedeutet, Überlegungen, die in allen Phasen des Forschungsprozess entstehen – z.B. zum weiteren Vorgehen oder zu möglichen theoretischen Aspekten – festzuhalten. Glaser und Strauss betonen die hohe Bedeutung, die dieser Technik der Entwicklung von Theorien zukommt, indem sie eigens dafür eine Regel aufstellen: „Unterbrechen sie die Kodierung und schreiben sie ein Memo über ihre Ideen.“ (Glaser & Strauss, 2008, S. 121). Die Memos können als Werkzeug verstanden werden aufkommende Ideen – vor allem über theoretisch-konzeptuelle Aspekte – zu fixieren und zu elaborieren. „In ihrem Sinne fixieren Memos das Flüchtige, sie helfen, sie sich herausbildende Theorie zu präzisieren“ (Mey & Mruck, 2011, S. 26).
Ebenso wie Ideen sollen Memos mit dem Fortschritt im Forschungsprozess kontinuierlich fortentwickelt werden. Dabei sollen Memos für verschiedene Aspekte des Forschungsprozesses angelegt werden: für die Entwicklung von Theorien / Konzepten, für die Planung und für die Methodik (Strauss, 1998, S. 151ff).
Memos und deren Entwicklung darzustellen würde eine immense Menge an Platz beanspruchen. Die Inhalte der Memos sind die zentrale inhaltliche Grundlage für die Darstellung der Ergebnisse in den Kapiteln 3.2 und 4.2.
Bedeutung von Vergleichen im Forschungsprozess
In dem Ursprungswerk „The discovery of grounded theory” von Glaser und Strauss von 1967 – bzw. der deutschen Übersetzung (Glaser & Strauss, 2008) – wird die Formulierung Methode des ständigen Vergleichens synonym für den Forschungsprozess der GTM benutzt; der Terminus Grounded-Theory-Methodologie wurde damals noch nicht verwendet. Das Vergleichen verstehen die Autoren als Hilfe für den Forscher eine Theorie zu generieren (ebd., S. 115ff). Strauss und Corbin bezeichnen die Vergleiche als Übungen, die dabei helfen sollen, „eher analytisch als deskriptiv über die Daten nachzudenken, provisorische Kategorien und Dimensionen zu erzeugen“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 64).
Das Vergleichen findet in allen Phasen der Untersuchung und auf allen Ebenen der Auswertung statt - Indikatoren werden mit Indikatoren vergleiche und Konzepte werden mit Konzepten verglichen. Durch die Vergleiche werden Konzepte weiter ausdifferenziert, indem Eigenschaften von Konzepten und Verbindungen zwischen Konzepten herausgearbeitet werden. Das Vergleichen und die Entwicklung der Theorie erfolgt dabei in zyklischen Wiederholungen wie sie oben dargestellt wurden.
Für die Entwicklung der Theorie sind jedoch nicht nur Vergleiche zu beobachtbaren Ereignissen in den analysierten Daten relevant, sondern auch hypothetische Vergleiche – die dann jedoch wiederum an tatsächlichen Fällen validiert werden müssen. Strauss und Corbin (1996, S. 64ff) benennen z.B. die Flip-Flop-Technik – das Vorstellen eines gegenteiligen Beispiels – oder weithergeholte Vergleiche13F[14].
Theoretisches Sampling / Theoretische Sättigung
Wie zu Beginn des Kapitels dargestellt ist der Ausgangspunkt eines qualitativen Forschungsansatzes, dass es keine geeigneten theoretischen Grundlagen für das zu untersuchende Feld in Verbindung mit der gestellten Forschungsfrage gibt. Von diesem Standpunkt aus können keine Grundgesamtheit und entsprechende Merkmalsverteilungen vorab definiert werden – wie für ein statistisches Sampling einer quantitativen Untersuchung. Es ist also eine andere Strategie gefragt, um das Sampling - also weitere Fälle und auch Vergleiche - zusammenzustellen (vgl. Seipel & Rieker, 2003).
„Theoretisches Sampling meint den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächstes erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind. Dieser Prozess wird durch die im Entstehen begriffene – materiale oder formale – Theorie kontrolliert.“ (Glaser & Strauss, 2008, S. 61). Die Auswahl weiterer Fälle erfolgt also nach deren Potential die bestehenden Konzepte bzw. die entstehende Theorie weiter auszudifferenzieren bzw. aufgestellte Hypothesen über theoretische Zusammenhänge zu konsolidieren. Diese Samplingstrategie wird von daher als theoretisch bezeichnet, weil die Auswahl weiterer Fälle aus der zu entwickelnden Theorie abgeleitet wird14F[15].
Dabei muss nicht zwingend das gleiche Datenformat weitererhoben werden. Es können auch andere Arten von Daten erhoben werden, sofern diese zur Ausdifferenzierung oder Konsolidierung der entstehenden Theorie beitragen. Diese Offenheit findet sich in einer vielfach zitierten Bemerkung Glasers wieder: „All is data“ (Glaser, 2002; Glaser & Holton, 2011).
Das theoretische Sampling solle so lange fortgeführt werden bis weitere Fälle keine weitere Entwicklung der Theorie erbringen würden. Ein solcher Zustand der Theorieentwicklung wird als theoretische Sättigung bezeichnet (z.B. Strauss & Corbin, 1996, S. 165).
In der vorliegenden Untersuchung wurde das theoretische Sampling innerhalb eines bestehenden Datenpools (vgl. Kapitel 2.1.3 und 2.2) durchgeführt. Mit Oswald ist dieses Vorgehen als Mischform des theoretischen Samplings zu bezeichnen (Oswald, 2010, S. 193). Auf diesen Punkt verweisen auch Strauss und Corbin: „Wir meinen, daß Forscher intensives theoretisches Sampling innerhalb ihren tatsächlichen Daten durchführen können und sollen.“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 164).
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