Ein prinzipieller Unterschied bei der Recherche möglicher theoretischer Grundlagen findet sich in der Unterscheidung von phänomenologisch-bildungstheoretischen Ansätzen – wie sie vor allem in der Sportpädagogik rezipiert werden - und kognitionspsychologischen Ansätzen – die in der Sportwissenschaft vor allem in der Bewegungswissenschaft Berücksichtigung finden, aber auch in der pädagogisch-psychologischen Unterrichtsforschung. Die Pluralität dieser Ansätze - die einerseits wissenschaftstheoretisch als unvereinbar dargestellt werden (vgl. Kapitel 3.1.3), aber durch ihre unterschiedlichen Ansatzpunkte auf jeweils wichtige Aspekte verwiesen haben – ließ zu Beginn der Untersuchung keine eindeutige Entscheidung zu und führte zu dem durchgeführten qualitativen Forschungsansatz. Eine Verbindung der verschiedenen Aspekte wurde erneut durch einen Ansatz jenseits des sportwissenschaftlichen Horizonts gefunden, und zwar durch Problemlösetheorien (vgl. Kapitel 3.1.4).
Die Ergebnisse von Studie I zeigen einerseits, dass Theorien des Problemlösens und deren gegenstandsspezifische Adaption durch diese Untersuchung einen geeigneten gegenstandsangemessenen Rahmen bieten, um Lernprozesse zu modellieren. Andererseits hat sich die so modellierte Struktur der Lernprozesse als Ansatzpunkt für die Betreuungsprozesse und deren Beurteilung nach Graden der Angepasstheit / Adaption bewährt. Letzteres – die Klassifikation verschiedener Grade der Adaption (vgl. Kapitel 4.2.3) – soll aus Sicht des Autors als Kernergebnis der gesamten Untersuchung verstanden werden.
Nach der Begründung der Wahl eines qualitativen Forschungsansatzes für die gesamte Untersuchung soll im Folgenden die Auswahl der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) als leitender forschungsmethodischer Ansatz für beide Studien begründet werden.
Eine Begründung für etwas bedeutet auch immer eine Begründung gegen etwas. Während das in dem ersten Punkt - der Abgrenzung von qualitativen zu quantitativen Ansätzen - noch (relativ) einfach gelingt, ist die Begründung einer Entscheidung für eine spezielle qualitative forschungsmethodologische Leitlinie und die Begründung, warum eine andere Leitlinie nicht besser geeignet wäre, wesentlich komplizierter. Komplex ist die Begründung daher, da zwar klare theoretische und verfahrenstechnische Unterschiede ausgemacht werden können, zum Teil allerdings ähnliche Ergebnisse erzielt werden können und daher auch ähnliche Fragestellungen bearbeitet werden können.
Aus gängigen Systematiken zu qualitativen Forschungsperspektiven und –orientierungen – z.B. bei Flick, von Kardorff & Steinke (2008a), Lamnek (2010) und Lüders & Reichertz (1986) – stellen Mruck & Mey (2005) eine Synopse mit drei verschiedenen Klassen qualitativer Forschungsperspektiven zusammen6F[7].
Aufgrund der Ausgangsfragestellungen der zweiten Studie – Wie betreuen Lehrkräfte selbständiges Lernen / Problemlösen im Sportunterricht? - lässt sich zumindest annäherungsweise begründen, warum die GTM als forschungsmethodologische Leitlinie gewählt wurde.
Die Fragestellung von Studie I fokussiert vor allem die Interaktionsprozesse der Akteure und in diesem Sinne lag die Wahl der GTM als forschungsmethodische Leitlinie nahe. Eine detaillierte Begründung - und so weit möglich Abgrenzungen zu anderen qualitativen Forschungsansätzen – für die GTM erfolgt im folgenden Kapitel anhand konkreter Merkmale.
Mit der Entscheidung (in Studie II) eine zweite Fragestellung für die Untersuchung zu bearbeiten – Wie lassen sich Lernprozesse der Schüler in den vorliegenden Daten strukturieren? – hätte aufgrund der Fragestellung nach Strukturlogiken und impliziten Regeln in der Tat eine neue forschungsmethodologische Leitlinie in Erwägung gezogen werden können (vgl. Tabelle 1, rechte Spalte). Jedoch wurde die Entscheidung für die GTM aus zwei Gründen nicht weiter infrage gestellt. Erstens, sind forschungspragmatische Gründe anzuführen. Im Rahmen einer Qualifikationsarbeit ist es bereits eine immense Herausforderung sich einen forschungsmethodischen Ansatz zu erarbeiten (vgl. Truschkat, Kaiser-Belz & Reinartz, 2007); einen zweiten Ansatz für eine untergeordnete Fragestellung in Erwägung zu ziehen, schien zu dem damaligen Zeitpunkt und auch aus der Retrospektive ein ungerechtfertigter Aufwand. Zumal, zweitens, nicht ausgeschlossen ist, dass aufgrund der Leitlinien der GTM auch Tiefenstrukturen7F[8] in die Auswertung einfließen können, auch wenn andere Verfahren eventuell für diese Fragestellung geeignetere Verfahrensweisen zur Verfügung stellen8F[9].
Tabelle 1 - Synopse zu qualitativen Forschungsperspektiven (nach Mruck und Mey, 2005)
2.1.1 Merkmale der GTM und deren Anwendung in den Studien
In dem folgenden Kapitel soll verdeutlicht werden, welche Bedeutungen verschiedene Merkmale der GTM als Forschungsstil und Forschungshaltung für die Untersuchung hatten. Dafür wird zuerst die Auswahl von Merkmalen dieses durchaus vielfältigen Forschungsansatzes begründet und dann die einzelnen Merkmale erläutert und deren Bedeutung für die Untersuchung dargestellt.
Mey und Mruck (2011) weisen darauf hin, dass es angesichts der Vielfalt von Ansätzen hinter dem Label Grounded-Theory9F[10] angemessener wäre von Grounded-Theory-Methodologien im Plural zu sprechen (vgl. auch Berg & Milmeister, 2011). Differenzen bei den verschiedenen Merkmalen zeigen sich nicht nur bei den Gründervätern Barney Glaser und Anselm Strauss, auch in der zweiten Generation bei Juliet Corbin, Kathy Charmaz und Adele Clarke zeigen sich erhebliche Unterschiede. Auch wenn in Deutschland derzeit überwiegend die GTM-Variante von Anselm Strauss und Juliet Corbin rezipiert wird, haben sich auch hier einige lokale und disziplinäre Adaptionen entwickelt (z.B. Breuer, 2010; Strübing, 2008)10F[11]. Angesichts dessen scheint die oftmals angeführte Trennung der GTM-Vertreter in ein Glaser-Lager und ein Strauss/Corbin Lager stark vereinfachend, da die vielen Gemeinsamkeiten der Protagonisten in einigen Merkmalen im Verborgenen bleiben. Tiefgehende Auseinandersetzungen finden zum einen in dem deutschsprachigen Sammelwerk von Mey und Mruck (2011) – dem Grounded Theory Reader – statt, und zum anderen in dem US-amerikanischen Pendant von Bryant und Charmaz (2010) – The SAGE handbook of grounded theory.
Ohne sich einer speziellen „Schule“ oder sich ausschließlich einem oder mehreren Autoren zu verpflichten, werden im Folgenden die von Mey und Mruck (2011) angeführte übergreifenden Merkmale der GTM dargestellt und deren Anwendung in der vorliegenden Untersuchung mit Rückgriff auf weitere Protagonisten der GTM erläutert.
Forschung als iterativer Prozess
Der Forschungsprozess in einer Untersuchung nach der GTM zeichnet sich durch einen Prozess aus, in dem sich Phasen der Datenerhebung11F[12] und der Entwicklung einer Theorie / eines Modells12F[13] von Beginn an zyklisch (iterativ) abwechseln (vgl. Abbildung 1).
Dieser Punkt ist zunächst unabhängig davon, welche Quellen für die Entwicklung eines Modells herangezogen werden – siehe dazu das Merkmal „Theoretische Sensibilität“ weiter unten. Der Wechsel dieser Phasen, soll die Entwicklung einer Grounded Theory – einer gegenstands- bzw. datenverankerten Theorie – gewährleisten. Die deduktiven „theoretischen“ Phasen haben weniger die Funktion, „fertige“ Kategorien aus bestehenden Theorien zu übernehmen, die dann wiederum subsumptionslogisch als Schablonen für die weitere Arbeit in den Daten verwendet werden, sondern dass, darin, dass sukzessive Kategorien entwickelt werden, die dem Untersuchungsfeld und der Fragestellung angemessen sind. Das untere graue Rechteck in Abbildung 1 mit dem Titel Theorie bezeichnet damit die Modellentwicklung, die wie jegliche qualitative Forschung dem Prinzip der Offenheit verpflichtet ist (vgl. Flick et al., 2008b; Mruck & Mey, 2005). Geschlossenheit – z.B. durch im Voraus ausgewählte Theorien oder einseitige evtl. persönlich favorisierte Sichtweisen - widerspricht dem Anliegen qualitativer Ansätze den subjektiven in den Daten liegenden Sinn zu rekonstruieren (vgl. Tabelle 1).
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