Da für dieses Verfahren der eng verzahnten Auswertung von Text- und Videodaten zum Zeitpunkt der Entstehung der Untersuchung kaum Beispiele vorliegen, mussten erst Verfahrensweisen entwickelt werden. Daher liegen die Protokolle nicht in einer einheitlichen Form vor. Während die ersten Protokolle durch einen hohen Umfang der Beobachtungsbeschreibungen geprägt sind, sind die Beobachtungselemente der Protokolle, die gegen Ende der Untersuchung entstanden sind, wesentlich fokussierter. Dies ist in forschungsmethodischer Hinsicht der zunehmenden Einschränkung der Foki bzw. dem selektiven Kodieren geschuldet (vgl. Kapitel 2.1.2)36F[37]. Sprachliche Facetten (z.B. verbale und prosodische Merkmale, Pausen, etc.) waren zum einen aufgrund der engen Verzahnung von Videodaten und Protokollen und vor allem aufgrund der Stoßrichtung der Fragestellung für die Auswertung von geringer Bedeutung gewesen und nahmen nur in der Hinsicht eine Funktion ein, um den Abgleich von Videodaten und Protokoll zu erleichtern. Die Notationszeichen in Tabelle 15 wurden daher ausgewählt, da sie markante sprachliche Besonderheiten als Orientierungspunkte dokumentieren. Sie wurden nicht ausgewählt, um Feinheiten verschiedener sprachlicher Bedeutungen zu kodieren.
Dass die erstellten Protokolle nicht in hohem Maße standardisiert dokumentiert wurden, steht letztendlich auch mit dem qualitativen Forschungsparadigma in Einklang, dem in der Untersuchung gefolgt wurde. Qualitativer Forschungslogik zufolge erlangen Phänomene in den Daten ihre Bedeutung durch die Rolle, die sie in dem zu entwicklenden theoretischen Zusammenhang spielen. Im Sinne theoretischer Sensibilität (vgl. Kapitel 2.1.1) wurden neben den Protokollen auch andere Datenquellen zur Entwicklung der Ergebnisse (vgl. Kapitel 3.2; 4.2) herangezogen. Beispielsweise wurden für die eher „theoretischen Phasen“ des iterativen Auswertungsprozesses (vgl. Kapitel 2.1.1) auch die Arbeitsblätter der Unterrichtsreihe (vgl. Kapitel 7.1) oder Befunde anderer Studien herangezogen. Eine hohe Bedeutung entsteht nicht aufgrund des wiederholten Auftretens eines Phänomens in statistisch signifikantem Maße, die nur durch die strenge standardisierte Vergleichbarkeit der Daten erreicht werden kann.
Nach der Kodierung des ersten Videos wurde gezielt entlang der identifizierten und bereits konzeptualisierten Kategorien nach Vergleichen innerhalb des Videodatenpools gesucht. Ab diesem Zeitpunkt wurden nicht mehr pauschal ganze Videos protokolliert, sondern lediglich jene Szenen in Protokollen verschriftlicht, die auch tatsächlich als relevant erachtet und kodiert wurden.
Die Kodierung wurde ebenfalls mittels der Software Atlas.ti Version 7 durchgeführt (Friese, 2012; vgl. Friese, 2013; Konopasek, 2011; Mühlmeyer-Mentzel, 2011). Die Software ermöglicht sowohl Text als auch Videodaten einzulesen und aufeinander zu beziehen. Außerdem wird die konzeptuelle Arbeit durch Gruppierungsfunktionen, die Bildung von sogenannten Netzwerken und komplexer Retrieval-Funktionen unterstützt37F[38].
Für die Darstellung der Ergebnisse sind zum Teil Standbilder (sogenannte Stills; vgl. Dinkelaker & Herrle, 2009) der Videos entnommen worden, um die Konstellation des jeweiligen Ankerbeispiels zu veranschaulichen. Aufgrund der mittelmäßigen Auflösung der Videos wurden die Stills digital nachgezeichnet.
2.2 Beschreibung des Videodatenpools
Im folgenden Kapitel werden die untersuchten Videodaten vorgestellt. Die Daten stammen aus der letzten Reihe von Studien der Frankfurter Arbeitsgruppe zu Kooperativem Lernen unter der Leitung von Robert Prohl, Ingrid Bähr und Bernd Gröben38F[39].
Der in der Untersuchung verwendete Datenpool umfasst 46 Doppelstunden (à 90 Min.) von acht Schulklassen. Von diesen acht Schulklassen sind sechs Schulklassen der Haupterhebung zuzuordnen. Diese wurden nach den kooperativen Skripts Gruppepuzzle und Gruppenturnier mit den Inhalten Handstand und Flugrolle unterrichtet (Bähr, 2009b, 2010, 2008b, 2009a; Bähr & Wibowo, 2012)39F[40].
Die Videoaufnahmen der zwei verbleibenden Klassen sind in einer Nacherhebung eines Parallelprojekts entstanden um Good-Practice Beispiele eines erziehenden Sportunterrichts – anhand Kooperativen Lernens - für das E-Learning Projekt HeLPS40F[41] zu entwickeln (Faßbeck, 2010; Prohl & Gröben, 2010). In diesen beiden Klassen wurde Kooperatives Lernen ohne ein spezielles Skript mit den Inhalten „auf-Händen-stehen“, „Fliegen-und-Rollen“ und Akrobatikpyramiden unterrichtet (s.u.).
Für die Unterrichtsstunden der Haupterhebung stehen für die hier vorgestellte Untersuchung die Perspektiven zweier Videokameras zur Verfügung. Erstens die Perspektive einer Verfolgerkamera auf den Lehrer. Die Tonspuren dieser Aufnahmen sind aufgrund des Einsatzes von Lavalier-Mikrofonen sehr gut. Zweitens die Perspektive auf eine exemplarisch ausgewählte Schülergruppe jeder Klasse. Die Tonspuren der Schülergruppen sind wegen der Verwendung der kamerainternen Mikrofone mittelmäßig bis schlecht. Aus der Nacherhebung steht nur eine Perspektive auf die Schülergruppen zur Verfügung. Auch hier ist die Tonqualität dank der Lavalier-Mikrofone relativ gut.
Im Folgenden wird zuerst auf die Auslegung des Konzepts Kooperativen Lernens als Möglichkeit selbständigen Lernens im Sportunterricht eingegangen, danach werden allgemeine Informationen zu den Klassen, Gruppen und Schülern, allgemeine Informationen zu den Lehrern und der Ablauf der drei verschiedenen Unterrichtsreihen dargestellt.
2.2.1 Kooperatives Lernen als Möglichkeit selbständigen Lernens im Sportunterricht
Kooperatives Lernen wird im sportpädagogischen Diskurs als Möglichkeit gesehen, erziehenden Sportunterricht umzusetzen und selbständiges Lernen im Sportunterricht zu ermöglichen (Bähr, 2005; Bähr & Wibowo, 2012; Prohl, 2004, 2010, 2012b). In Bezug auf Vermittlungsformen in einem erziehenden Sportunterricht sei „das Kooperative Lernen eine für Schüler wie Lehrer zwar anspruchsvolle, jedoch potentiell äußerst ertragreiche Vermittlungsform“ (Prohl, 2012b, S. 107).
Kooperatives Lernen basiert auf Grundlagen der pädagogischen Psychologie (vgl. Aronson & Patnoe, 1997; Johnson, Johnson & Stanne, 2000; Konrad & Traub, 2001; Slavin, 1989, 1993) und ist anfangs fachunspezifisch (vgl. Green & Green, 2007; Johnson, Johnson & Johnson Holubec, 2005; Weidner, 2003), mittlerweile aber auch fachspezifisch vielfach weiterentwickelt worden (vgl. Biermann, Brüning & Saum, 2008). Für den Sportunterricht hat vor allem Ingrid Bähr den Ansatz des Kooperativen Lernens aufgegriffen und angepasst.
Demnach ist Kooperatives Lernen im Sportunterricht durch fünf Merkmale gekennzeichnet (vgl. Bähr, 2005, 2007). Erstens die Anerkennung eines gemeinsamen Gruppenziels durch alle Gruppenmitglieder. Zweitens ein Spielraum für Entscheidungen, „auf welchem Weg der Arbeitsauftrag umgesetzt und damit das Gruppenziel erreicht werden soll“ (Bähr, 2007, S. 84). Drittens sollte der Unterricht so gestaltet werden, dass eine individuelle Verantwortung für das Gruppenziel entsteht – mit anderen Worten, das Gruppenziel soll möglichst nur dadurch erreicht werden können, dass jeder Einzelne sich konstruktiv in den Arbeitsprozess einbringen muss. Viertens soll eine positive Wechselbeziehung (Interdependenz) zwischen den Schülern etabliert werden – dies bedeutet, dass der Erfolg der Gruppe von den individuellen Leistungen der Schüler abhängig gemacht wird und daher die Unterstützung der anderen Gruppenmitglieder zum individuellen Erfolg verhilft. Fünftens ist die systematische Reflexion der Arbeitsprozesse während der Arbeitsprozesse und nach den Gruppenarbeitsphasen ein Merkmal Kooperativen Lernens.
Kooperatives Lernen im Sportunterricht wird entlang dieser Merkmale als Rahmenbedingung gesehen, damit selbständiges Lernen im Sportunterricht stattfinden kann. In Bezug auf das erste und zweite Merkmal wird von den Schülern gefordert, dass diese Schwerpunkte festlegen und verfolgen. Die Merkmale der individuellen Verantwortung und der positiven Wechselbeziehung fordern von den Schülern, dass diese von sich aus die Initiative ergreifen und ihren Beitrag für das fachliche Ziel erfüllen und die Verantwortung gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern wahrnehmen. Hinsichtlich der Reflexion des eigenen Arbeitsprozesses werden die Schüler dazu angeregt das eigene Handeln zu resümieren und zu evaluieren.
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