Ein starkes Rumsen riss mich aus meinen Gedanken. Mein Atem stand still. Ich zitterte vor Wut. Der Flug wurde ruhiger, und ich atmete tief ein und aus. Das Anschnallzeichen erlosch und ich schlief ein.
Die Stewardess weckte mich. Wir standen kurz vor der Landung. Sie verzögerte sich noch ein wenig wegen der Wetterlage, aber wir sollten die Sitze schon einmal in die aufrechte Haltung bringen. Ich sah nach links und beobachte, wie Mutter und Sohn zusammen eingeschlafen waren. Der Junge war an seine Mutter geschmiegt. Was für ein schönes Bild, dachte ich. Wenn ich da an das Verhältnis zu meiner Mutter dachte.
Zu meiner Mutter hatte ich nie ein gutes Verhältnis gehabt . S tattdessen herrschte eine gewisse Distanz zwischen uns. Nach dem Tod meines Vaters hat t e sie sich zwar verändert , da sie öfters Trost bei mir suchte, doch ertrug ich ihren unterdrückten Gram nicht. Es tat mir zwar leid , sie wegzustoßen, da ich spürte, wie ich sie damit verletzte, doch ich hatte keine Kraft , sie aufzufangen .
Es f olgte die Zeit, wo alles ans Licht kam. Die Zeit , als ich in dieser Zelle lag und nichts verstand. Ich erinner e mich an die Szene, wie Angela mich mit ihrer Umarmung tröstete und mir dabei gleichzeitig übers Gesicht strich, dabei hatte i ch keinen blassen Schimmer, was in den letzten Woche n passiert war. Dann betrat ein Mann in einem weißen Kittel mein Zimmer und wandte sich an meine Mutter, die im Raum stand: „Es ist ein seltsamer Fall von Hysterie ! Ihr Nervensystem hat sich jetzt beruhigt. Sie kann jetzt nach Hause gehen . “
Die Falten meiner Mutter vertieften sich und ich konnte beobachten , dass ihr etwas auf der Seele lag . Von Angela erfuhr ich später , dass ich e inen Monat lang in der Klinik behandelt worden war. Ich stand unter strengster Beobachtung und wurde mit starke n Medikamenten behandelt. Ich konnte das alles nicht verstehen, da ich mich an nichts erinnern konnte. Keiner wollte mir etwas Genaueres erzählen. Für eine 17 -j ährige junge Frau war das eine Qual. Ich war zuvor Klassenbeste in der Oberstufe gewesen und gut angesehen. Wie sollte ich diesen Vorfall meinen Freunden und Lehrern erklären ? Zwar erinnerte ich mich, dass weder m eine Mutter noch d ie Krankenschwestern mir in dieser Zeit einen Spiegel bringen wollten. S ie hielten mich davon ab, mich in diesem Zustand zu sehen , b is ich meine Freundin Angela überreden konnte , mir zu helfen. Sie brachte mir einen kleinen Spiegel ins Krankenzimmer. Ich erschrak , als ich mein nur noch schattenhaftes Gesicht erkannte.
Dann war endlich der Tag gekommen, an dem sie mich entließen. Ich zog mir meine dunkelblaue Jeans an, die fast an mir herunterrutschte, weil ich durch den Krankenhausaufhalt stark abgenommen hatte . Ich bedankte mich bei den Ärzten, obwohl ich nicht einmal wusste wofür. Der Arzt wandte sich kurz an m eine Mutter und schaute sie eindringlich an: „Sie müssen mit ihr reden.“ D ann kam er zu mir , schüttelte mir zuversichtlich die Hand und verabschiedete sich .
Als wir erschöpft zu Hause ankamen, sagte mir meine Mutter mit ernster Miene : „Geh rauf in dein Zimmer und ruh dich aus, ich komme gleich nach . Ich muss dir etwas Wichtiges erklären. Vorher mache ich uns einen Tee.“
Der Duft nach Melisse drang bis in mei n Zimmer und verbreitete sein Aroma . Ich fragte mich, was es so W ichtiges zu bereden gab, denn bisher setzte sie Tee wasser nur dann auf, wenn etwas Schlimmes g eschehen war . Das letzte Mal hatte sie Tee gekocht, als Vater gestorben war. Das Knirschen der Treppe riss mich aus meinen Gedanken. Meine Mutter kam die Treppen herauf und be trat vorsichtig mein Zimme r . Sie stellte den Tee und die Tassen auf die Kommode und setzte sich neben meine m Bett auf einen Stuhl. Wir schwiegen uns eine lange Zeit an, dann stand sie auf und schüttete den Tee in unsere Tassen. Sie drehte sich mit der Tasse Tee zu mir und überreichte sie mir. Ich beobachtete meine Mutter dabei. Sie sah alt aus. Es schien , als ob sie in den letzten Wochen stark gealter t wäre . Ihr früher einmal blondes Haar hatte sich jetzt komplett tiefgrau verfärbt. Ihre blauen Augen schauten mich traurig und geheimnisvoll an. Ich setzte mich aufrecht in meinem Bett auf und schaute sie erneut fragend an. Daraufhin ergriff meine Mutter das Wort und sprach lang Verschwiegenes aus : „Ronja, du ahnst , ich muss dir etwas erzählen, was dein Leben verändern wird.“ Sie stand auf und ging ins Bad, in dem mein geliebter Spiegel h i ng. Sie nahm den Spiegel ab und brachte ihn zu mir ins Zimmer, dabei streichelte sie den Rahmen ganz vorsichtig , als ob es sich um etwas Zerbrechliches handelte . Ich schaute sie verwundert an und erwartete jetzt eine Erklärung von ihr .
„Er ist von ihr, sie mochte den Spiegel sehr “, e rwiderte sie meine m fragenden und fordernden Blick.
„Von ihr?“ fragte ich sie. „Was meinst du damit?“
„Mein geliebtes Kind , wir wollten es d ir eines Tages gemeinsam erzählen , d ein Vater und ich. Aber dann kam alles anders . Du weißt ja , er musste viel zu früh gehen. “ Tränen schossen ihr dabei in die Augen , und sie unterbrach ihre Erzählung. Nach einer Weile wischte sie sich die Tränen ab und fuhr fort: „ Ich hatte alleine keine Kraft , di r die Wahrheit zu sagen und so redete ich mir ein, dass du die Wahrheit nicht unbedingt erfahren müsstest. Aber dann wurdest du krank. Die ganze Situation , so wie du dich benahmst , erinnerte mich so an sie. Damit meine ich diese seltsamen Anfälle, die du immer wieder hattest und zuletzt musstest du sogar deswegen ins Krankenhaus. Als es dir so schlecht ging, habe ich einmal von dieser Frau geträumt. Es war ein einziger Albtraum, denn sie fuhr mich wie eine Furie im Traum an. Sie krallte ihre spitzen Fingernägel in meine Brust, so dass ich nach Luft ringen musste. Ihre scharfen grünen Augen sprachen zu mir und forderten mich auf, dich über deine Herkunft aufzuklären. Als ich am darauffolgenden Morgen aufwachte, fasste ich den Entschluss , dir alles zu erzählen. Seltsam war, dass es dir daraufhin augenblicklich besser ging. “
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