»Jesús«, setzte der alte Mann an und atmete dann tief durch. »Er hat gesagt, ich solle ruhig kommen, wenn es nun mal nicht anders ginge. Und da bin ich.«
»Da bist du. Aber da bleibst du nicht. Und was Jesús angeht: Es ist nicht sein Hotel! Er kann jeden einladen. Ob ich ihn aufnehme, bleibt mir überlassen. Und der Auslastung des Hotels. Wir sind voll, voll, voll! Kein Bett für Dich oder sonst irgendwen.« Madame setzte ihr Ein-Sterne-Gast-Lächeln auf, bei dem die Mundwinkel nach oben wiesen, aber die Augen einfach nicht mitmachen wollten. »Eli ...«
»Zum Teufel«, zischte es aus Madame. Der Druck im Kessel stieg. Da stand dieser Mann vor ihr und stellte Ansprüche. Sie konnte doch nicht jeden Rentner aufnehmen. Ihr Blick bohrte sich in die Tastatur. Q-W-E-R-T-Y-U-I-O-P. Um sich zu beruhigen, las sie die erste Buchstabenreihe vor und zurück, dreimal. Dann nahm sie sich die nächste Reihe vor. Nach zwei Minuten blickte sie auf und der Mann war verschwunden. Sehr gut.
Ah, und da kamen auch schon die beiden Deutschen. Atmungsaktive Goretex-Jacken und karierte Wanderhemden, die, obwohl bügelfrei, irgendwie gebügelt und gestärkt aussahen. Die beiden wirkten deplatziert in dieser Kleidung. Wenn das Wanderer sein sollten, dann war sie Jeanne d’Arc. Sie schnaubte amüsiert angesichts dieses Vergleichs.
Der Mann hatte seine blonden Haare mit viel Gel akkurat nach hinten gekämmt. Sein Gesicht hatte eine sanfte Bräune, seine blauen Augen etwas Unangenehmes, das man mit viel Wohlwollen geheimnisvoll oder weniger freundlich schlicht verschlagen nennen konnte. Die Frau an seiner Seite schien ein wenig älter zu sein als er, vielleicht Mitte vierzig. Ihre langen Haare waren blond gefärbt mit einem leichten Stich ins honigfarbene. Sie machte auf Madame den Eindruck eines sehr klugen, wachsamen Menschen. Obwohl sie bestimmt in der gleichen Welt zu Hause waren, passten sie nicht recht zusammen. Warum sie keine Wanderer sein konnten, wusste Madame sich nicht näher zu erklären. Vielleicht weil alles an ihnen neu war, die Kleidung ebenso wie die Wanderrucksäcke eines teuren Outdoor-Herstellers auf ihren Schultern. Ihre Koffer waren viel zu groß für einen einwöchigen Aufenthalt. Sie waren mit Sicherheit nicht einmal normale Pauschaltouristen, sondern pflegten sonst, in anderen Etablissements abzusteigen. Die Art, wie der Mann den Voucher aus seinem nagelneuen Bauchgurt fingerte, zeigte ihr, dass er dies zum ersten Mal in seinem Leben tat. Seine Hand zitterte leicht und seine geröteten Wangen zeugten davon, dass er sich am Beginn eines großen Abenteuers glaubte.
»Gerhard«, sagte er hastig. »Paul Gerhard. Meerblick.«
Die Frau lächelte.
»Gutentack, willkommenimborrasca.« Madame atmete tief durch, kontrollierte das Papier, nahm die Ausweise der beiden entgegen, schob Herrn Gerhard den Schlüssel zu und sagte ihren endlosen Ein-Wort-Satz. Am Ende schauten alle drei in Richtung Aufzug. Die Gäste begriffen, dass sie von nun an auf sich selbst gestellt waren, und drängten mit ihren beiden Koffern in die kleine Kabine. Mit einem Rappeln ging die Falttür zu und der kräftige Ruck signalisierte ihren Aufstieg in ein Zimmer für Ein-Stern-Gäste. Unten saß Madame, studierte die Personalausweise der beiden genau, lächelte und dachte: Zwei Stunden. Wetten!
Montag, 10. Mai 2010
Gesa und Paul nahmen ihre Rollen sehr ernst und marschierten wie Wanderer durch unwegsames Gelände – ein Anfängerparcours freilich, doch für Menschen, die es gewohnt waren, selbst für kurze Wege den Wagen zu nehmen, eine wirkliche Herausforderung. Paul, der gut und durchtrainiert aussah, hatte Mühe mit dem Atmen. Wenn er eine besonders hohe Steinstufe nehmen musste, hörte Gesa ihn aufstöhnen. Noch keine 40 und die Kondition eines 60-Jährigen. Ein Leben für die Karriere. Im Büro. Hier hatte er den Gipfel fast erklommen, eine Stufe unter dem Vorstand, unter Gesas Mann, dem Vorstandsvorsitzenden. Paul war ein Mann der Ideen, so hatte er es Gesa gegenüber oft betont.
Ideen hatte er tatsächlich unendlich viele, allein fehlte ihm die Fähigkeit, die guten von den schlechten zu unterscheiden. Nicht sein Intellekt hatte ihn aufsteigen lassen, sondern sein Charme, der andere dazu brachte, für ihn zu denken. Paul war ein Sonntagskind. Ein echter Sportsmann, jedoch mit begrenzter Kondition. Hatte sich eine „seiner“ Ideen als erfolgversprechend erwiesen, so war er aufgeregt wie ein kleiner Junge, den der Lehrer in der Schule gelobt hatte. Zu Anfang ihrer Affäre hatte Gesa diese Marotte noch liebenswert gefunden. Inzwischen fand sie es albern. Umso mehr hatte sie sich auf diesen Urlaub fernab jeglicher beruflicher Angelegenheiten gefreut. Doch seit sie auf Mallorca angekommen waren, gab Paul immer wieder den kleinen, fleißigen Schüler, dem etwas ganz Großes gelungen war oder bald gelingen würde. Dass dies ausgerechnet geschah, als sie beide hier alleine waren, beunruhigte Gesa. Er schien etwas im Schilde zu führen und sie hoffte, dass es nichts mit ihr zu tun haben würde. Für mehr als einer Affäre war sie nicht zu haben.
Gesa war leichtfüßiger und hatte ihn beim serpentinenartigen Aufstieg über den steinigen Pfad bald abgehängt. Die leichte Jacke hatte sie bereits um die Hüften gebunden. Sie schwitzte in der neuen Funktionsunterwäsche, die laut Herstellerangaben alle Feuchtigkeit sofort nach außen transportieren sollte. Ihre karierte Outdoorbluse zeigte dunkle Flecken unter den Achseln. Nach einer halben Stunde erreichten sie den ersten im Wanderführer beschriebenen markanten Punkt, eine Finca, die frisch gepressten Orangensaft anbot. Da schon einige Wanderer um den großen Holztisch saßen, gingen die beiden weiter, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Auch wenn es unwahrscheinlich war, hier auf Bekannte zu treffen, wollten sie kein Risiko eingehen.
Gesa und ihr Mann hatten ein »Gentlemen-Agreement«. Es war sogar im Ehevertrag festgehalten, was der eigentlichen Bedeutung des Wortes als mündlicher Vereinbarung zuwider lief. Ein umständlich formulierter Paragraph erlaubte es ihnen, außereheliche Beziehungen zu pflegen, dies jedoch nur diskret und nicht in der Öffentlichkeit. Wenn Gesa hier und da mit einem anderen Mann beim Abendessen gesehen wurde, war das in Ordnung. Und wenn ihr Mann wieder einmal eine firmeninterne Affäre pflegte, so hatte auch das keine Auswirkungen auf ihre gut begründete Ehe. Ein gemeinsamer Urlaub mit einem Mitarbeiter ihres Mannes ging jedoch zu weit, da würden Liebe und Agreement aufhören.
Ihr Mann hatte sie wegen ihres Namens, ihrer Schönheit und ihrer Jugend geheiratet. Ihr Großvater war ein berühmter Dichter gewesen, der Jahr für Jahr als ernst zu nehmender Anwärter auf den Literaturnobelpreis gegolten hatte, ihn jedoch niemals erhielt. Er war in Intellektuellenkreisen geachtet, als es diese noch gab. Hans Sielka, Gesas Mann, sah in der Dichter-Enkelin, deren Vater er hätte sein können, den Glanz jener vergangenen Zeit. Sie war inzwischen der letzte noch lebende Spross dieser in seinen Augen so geistreichen Familie, ein Einzelkind.
In der Welt der großen Unternehmenslenker galt Sielka bis heute als Schöngeist und Förderer der Kunst – eine Art Ablass für das raue Leben als Entscheider. Positiver Nebeneffekt: Er sparte Steuern – freilich weitaus weniger als durch den von ihm gepflegten Transfer größerer Summen ins Ausland. Die Liebe zur Kultur umgab ihn wie eine unsichtbare Hülle. Sie schuf eine Aura, die jeder, der ihn kennenlernte, spürte – auch die junge Gesa Layenbriefer. Sie war ihm zum ersten Mal auf der Vernissage eines aufgehenden Sterns am Kunsthimmel (der bald darauf verglühte) begegnet und hatte sich in diese Mischung aus männlicher Durchsetzungsmacht und feingeistiger Sensibilität verliebt. Beide waren damals gleichermaßen fasziniert voneinander gewesen, ein Schlüssel-Schloss-Erlebnis.
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