Jetzt hatte auch ich das Prinzip verstanden.
Manchmal war ich vielleicht etwas langsamer, aber schließlich nicht völlig blöde. Also suchte ich an der gegenüberliegenden Wand den Öffner.
Überraschenderweise befand er sich an der Decke, und hinter der Steintür verbarg sich auch kein Kriechgang, sondern eine Treppe. Sie wand sich – offenbar einer Gesteinsader folgend – abwärts.
Der Gang, von dem die Treppe wegführte, wurde von der rechten Seite durch Fackelschein beleuchtet. Ich konnte die Lichtquelle nicht sehen, weil sie durch einen Knick vor meinen Blicken verborgen blieb.
„Wir sind in Gang drei gelandet“, sagte ich laut, so dass Phyria mich hören konnte.
„Gut. Wir kommen nach, sobald Droins Wunde versorgt ist“, gab sie zurück.
Während ich ihr beschrieb, wo die Öffnungsmechanismen verborgen waren, war Jiang an mir vorbei die Treppe hinunter gegangen.
Sie kehrte bereits nach wenigen Augenblicken zurück.
Als ich sie ansah, legte sie einen Finger auf ihre Lippen, dann deutete sie die Treppe hinunter.
„In der Nähe ist jemand. Ich habe ihre Schritte gehört“ , signalisierte Sie mir in der Zeichensprache, die wir von den Dieben aus Rellinn erlernt hatten.
„Viele?“, antwortete ich ebenso.
„Mehr als fünf, weniger als fünfzig.“
Das war ziemlich ungenau. Und wenn wir Pech hatten, auch ziemlich viele. Da sie es nicht genauer wusste, nahm ich an, dass sie nicht direkt am Ende der Treppe warteten. Sonst hätte sie sie bestimmt gezählt.
„ Ich seh‘ mal nach. Warte auf die anderen.“
Dann nickte ich ihr zu und bewegte mich so leise ich es in voller Rüstung vermochte, die Treppe hinunter.
Sie war eng und niedrig, mit unregelmäßigen Stufen. Ich musste mich ziemlich verbiegen, um nicht ständig irgendwo anzustoßen.
Zwar war ich mir sicher, dass die Anderen mich auch dann nicht gehört hätten, wenn ich irgendwo angestoßen wäre, aber Vorsicht hatte noch nie geschadet. – Oder wenigstens nicht sonderlich häufig.
Nach zwanzig Schritten öffnete sich der Gang. Das neue Stück verlief von links nach rechts auf einer Breite von zwei Mannslängen und einer Höhe von drei Schritt. Eine Unterstraße.
Davon hatte Jiang nichts gesagt. Sehr vorsichtig trat ich auf die Straße hinaus, die sogar gepflastert war.
Zu sehen war nichts. Die Straße war in beiden Richtungen leer. Angestrengt lauschte ich auf Geräusche, konnte zunächst aber nichts hören.
Erst als ich ein paar Schritte nach links machte, konnte ich sehr leise Stimmen hören, zudem hatte ich vage den Eindruck, dass es einen schwachen Lichtschein gab, war mir aber nicht sicher.
Lautlos schlich ich näher. Tatsächlich wurde der Schein minimal heller und die Stimmen kaum merklich lauter. Zudem endete die Straße zehn Schritte weiter in einem großen, runden Raum, der mindestens drei Stockwerke hoch war.
Handbreit für Handbreit näherte ich mich der Öffnung. Unmittelbar über mir gab es einen zweiten Durchgang, und auch unter mir musste es eine Gangmündung geben. Nachsehen konnte ich nicht, denn in dem Gang über mir befanden sich mindestens drei Personen. Ganz leise unterhielten sie sich, aber worüber konnte ich nicht verstehen.
Der Lichtschein rührte von einer Fackel, die schwach den Boden des Raumes beleuchtete. In der Mitte des Raumes befand sich eine Steinsäule, die sich über die gesamte Höhe bis zur Decke erstreckte. Sonst gab es daran keinerlei Besonderheiten.
Als ich mich gerade abwenden wollte, fiel mir auf, dass es oben fast direkt neben der ersten noch eine zweite Öffnung gab. Ich hätte sie nicht gesehen, wäre ich nicht die ganze Breite der Straße abgeschritten, um an der Säule in der Mitte vorbei sehen zu können.
Anhand von Größe und Lage schätzte ich den Durchgang als das Ende des vierten Ganges ein, der von dem Raum mit den vielen Leichen bis hierher führte.
Das erklärte den Weg, den die Soldaten aus Morak eingeschlagen hatten.
Irgendwie waren sie von einem Gang zum nächsten gelangt.
Und wie es aussah, verlief unser Gang in die gleiche Richtung, nur direkt darunter.
Mit diesen Erkenntnissen kehrte ich zur Treppe zurück.
Leise schlich ich wieder nach oben, wo die anderen bereits auf mich warteten. Jiang hatte sich zum Meditieren auf dem Fußboden niedergelassen, Droin hatte den rechten Arm in einer Schlinge fixiert, um ihn ruhig zu halten.
Phyria begutachtete im Licht ihrer brennenden Hände die Fallen, während Anaya sich erneut um die Verletzungen der Gefangenen kümmerte, die – wie mir zu meiner Überraschung auffiel – nicht mehr gefesselt war.
Anaya bemerkte meinen Blick und winkte ab: „Wo soll sie denn schon hin?“
„Lärm machen, kann sie auch ohne wegzulaufen“, gab ich zurück, ehe ich berichtete, was ich entdeckt hatte.
Droin nickte bei meinem Bericht mehrfach, unterbrach mich aber nicht, bis ich meine Ausführungen beendet hatte: „Wir haben einen der Hauptwege erreicht. Das sollte uns erlauben, etwas näher an unsere Gegner heran zu kommen.“
„Leise sein. Drakk und Anaya als erstes, dann die Gefangene und ich. Ihr geht nach hinten“, entschied Jiang energisch: „Und lösch das Licht, Phyria, sonst merken sie, dass wir da sind.“
Klang vernünftig, auch wenn mir der Tonfall nicht gefiel.
Zunächst musste ich jedoch meine Ausrüstung holen. Außer Droin wäre niemand in der Lage gewesen, meine Sachen zu tragen. Es war kein Vergnügen, sie durch den engen, niedrigen Gang zu transportieren.
Ich legte sie wieder ab, sobald ich die Straße erreicht hatte. Kaum war ich zurück, eilte Anaya leichtfüßig die Stufen hinunter, während ich mich vorsichtig bewegen musste, um keinen Lärm zu machen.
Hauptsache, es ging voran. Wir mussten unbedingt vor den Soldaten den Kompass erreichen. Ihnen das Ding hinterher wieder abzunehmen, würde ungleich schwerer sein.
Ich bemerkte, wie Anayas hübscher Hintern vor mir nach links abbog, um sich selbst ein Bild von meiner Entdeckung zu machen.
Das wertete meine Fähigkeiten nicht ab, sondern sollte dafür Sorge tragen, dass uns nichts entging.
Ich sah ihrer schlanken Rückseite einen Augenblick nach, dann schlich ich in entgegengesetzte Richtung davon.
Die Straße war tatsächlich gepflastert und wies auch Spuren regelmäßiger Benutzung auf. Jedenfalls war sie irgendwann einmal regelmäßig benutzt worden. Wozu man in einem steinernen Tunnel ein Pflaster brauchte, entzog sich meiner Vorstellung.
Vielleicht konnte Droin das erklären. – Später.
Mir gefiel die Straße nicht, denn trotz Dunkelsicht konnte ich nicht weiter als drei Seillängen sehen.
War ein Wesen mit besseren Augen im Dunkel verborgen, konnte es mich sehen, ehe ich eine Chance hatte, es zu entdecken. Daher war ich äußerst angespannt, während ich in der Mitte der Straße voran schlich.
Doch vor mir befand sich nichts als Schwärze. Kein Licht, keine Umrisse, keine Bewegungen und auch keine Geräusche.
Daher brauchte ich einen Moment, bis ich merkte, dass ich der Schwärze immer näher kam. Zehn Schritte von mir entfernt, war die Straße zu Ende: nicht, weil dort eine Wand oder ein Tor war, nein, sie fehlte schlicht und einfach. Wie am Rand einer eingestürzten Brücke. Ich blickte in einen bodenlosen Abgrund.
Die Straße war abgestürzt. Dort wo sie sich einst befunden hatte, war nur ein großes Loch zurückgeblieben.
Die Lücke war so groß, dass ich nur mit Mühe die andere Seite erkennen konnte.
Dabei fiel mir auf, dass auf der anderen Seite zwei Tunnel weiter führten. Unserer, und ein weiterer direkt darüber.
Vorsichtig beugte ich mich über den Abgrund und blickte nach oben. Tatsächlich befand sich dort ebenfalls eine Öffnung. Und noch etwas hatte ich dort entdeckt: Jemand hatte drei Seile über die Lücke gespannt. Zwei dienten als Handläufe, das Dritte zum darauf laufen. Für ein Provisorium eine sehr beeindruckende Leistung.
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