„Es hat zweimal geklingelt“, sagte Lenzendorf.
„Ja.“
„Warum?“
„Ich bin auf Toilette.“
„Ach, so.“
„Ja.“
Jetzt hörte er tatsächlich die Spülung.
„Ich melde mich dann wieder.“
„Ja“, sagte Mae-Ying.
Lenzendorf unterbrach die Verbindung.
Er tippte auf die Save me!-App und sah nach zwei weiteren Fingertipps, dass sie auf dem Weg in der Küche war.
Lenzendorf lächelte.
Aber war sie tatsächlich im Badezimmer gewesen? Er hätte vor dem Anruf nachschauen müssen. Er spürte leichte Verärgerung.
Und berührte mehrmals das Display seines Smartphones.
Ansonsten war alles im grünen Bereich. Das sah er auch. Die Bewegungsmelder meldeten nichts. Und das sollten sie ja auch: Nichts melden. Weder im Haus noch im Stall oder in der Scheune gab es ungewöhnliche oder unvorhergesehene Bewegungen, auch auf dem Hof nicht, es gab auch keine Veränderungen der Temperaturen in den verschiedenen Räumen. Sollte das doch der Fall sein, teilte ihm sein Smartphone das sofort mit. Es wurde Alarm ausgelöst.
Technik war sinnvoll, dachte er wieder einmal, wenn man sie richtig einsetzte. Wenn man sie einzusetzen wusste.
Lenzendorf wusste sie einzusetzen ... nicht, wie diese Zombies, er ließ sich nicht fremd steuern. Nein, er hatte die Fernbedienung in der Hand.
Er stellte die Erinnerung auf neun Uhr dreißig.
Das war die Zeit für den zweiten Anruf. Eigentlich brauchte er keine Erinnerungen für seine Anrufe. Er würde sich schon erinnern ...
Wegen der Besprechung bestand jedoch die Gefahr, und das wollte er vermeiden, dass er nicht rechtzeitig daran dachte oder sogar daran gehindert wurde. Ansonsten funktionierte an einem normalen Vormittag, das war ein Vormittag ohne unvorhergesehene Unterbrechungen und Ablenkungen, seine innere Uhr bestens.
Und dann hielt er inne ...
„Woher“, flüsterte er, „woher hat sie eigentlich den Orangensaft?“ ... Und er dachte weiter: Nein, nicht woher, sie hatte ihn gekauft, das hatte Mae-Ying ja gesagt, sondern wann hatte sie ihn gekauft? Ausreden sind Lügen, ging es ihm durch den Kopf.
Eigentlich hätte das Verlassen des Hauses und des Geländes den Alarm auslösen müssen ... aber ...
Er starrte auf das Display und tippte.
Nein, nichts zu sehen. In den letzten Tagen gab es keine Meldung, die er übersehen hatte. Die Chronik war sauber.
Das war eigentlich auch nicht möglich, dass er etwas übersehen hatte, nein. Aber das würde sich schon klären, heute Abend.
„Er hat sich doch nur gewehrt“, sagte Lenzendorf leise. „Ist es ein Verbrechen, sich zu wehren? ... Ist es jetzt schon ein Verbrechen sich zu wehren? ... Gegen diese Idioten.“
Er schaute aus dem Fenster. Er wusste, dass diese Besprechung sinnlos war, weil die Entscheidung bereits feststand. Sie meinten keine andere Möglichkeit zu haben, der Druck war zu groß. Das Schulamt hatte bereits angerufen. Es war so sinnlos hier zu sitzen.
Was für ein Blödsinn! Sie hatten keinen Mut. Es war eine fadenscheinige Angelegenheit hier zu sitzen und so zu tun, als ob es etwas zu besprechen gab. Sie raubten ihm nur seine Zeit. Deswegen hatte er beschlossen, wenigstens etwas zu sagen.
Vom kleinen Besprechungszimmer aus konnte man auf die Sportanlage schauen. Von hier oben sah man das ganze Ausmaß der hervorragenden Anlage. Als Sportlehrer war Lenzendorf Mitglied der Arbeitsgruppe gewesen. Sie war erst vor zwei Jahren eingeweiht worden, ein Gewinn für den Schulstandort. Das Gymnasium hatte lange darum gekämpft. Er schaute fast wehmütig aus dem Fenster. War aber trotzdem ganz bei der Sache. Die Turnhalle brauchte auch die eine oder andere Modernisierung.
Dass diese Idioten das nicht merkten und verstanden: Die Kinder und Jugendlichen brauchten Bewegung, viel mehr Bewegung, dann würde es auch nicht so bergab gehen.
Unter den gegebenen Umständen brauchten sie mehr Bewegung, viel mehr ... und viel mehr Angebote, sonst kamen sie auf dumme, ja, geradezu hirnrissige und gefährliche Ideen, und deswegen saßen sie jetzt im Besprechungszimmer, obwohl es nichts zu besprechen gab.
Was für ein verblödete Scheiße!, dachte Lenzendorf.
Lenzendorf hatte heute keinen Sportunterricht. Nur Deutsch und Mathe. Auf dem Sportplatz drehten einige Schüler ihre Runden. Frau Gerber stand mit einer Pfeife im Mund neben der Laufbahn und schaute den Schülern zu. Sie hielt ab und zu ihr Gesicht in die bereits wärmende Sonne.
Du musst dich umdrehen und dir den Nacken wärmen lassen, Frau Gerber. Das ist besser, dachte er und lächelte.
Frau Gerber war ebenfalls mit ganzer Seele Sportlehrerin. Sie schien jede Stunde, die sie mit einer Klasse auf der Sportanlage oder in der Turnhalle gab, zu genießen. Gemeinsam hatten sie schon etliche Sport-AGs angeboten. Frau Geber redete auch nicht viel, nur das Nötigste. Beste Voraussetzungen um mit Lenzendorf gut zusammenarbeiten zu können. Vielleicht begründete sich ihre offensichtliche Entspanntheit auch in der Tatsache, dass sie nur noch zwei Jahre „diesen Zirkus hier“ mitmachen musste. Das waren ihre Worte, und Lenzendorf hatte gelacht. Was nicht sehr oft vorkam, schon gar nicht in der Schule. Für ihr Alter und die Anzahl ihrer Dienstjahre war sie noch ausgesprochen gut in Form, auch geistig ... und sehr entspannt.
Oder hatte sie „Zoo“ gesagt?
„Wir unterrichten doch komplett an der realen Gegenwart der jungen Menschen und an ihrer Wirklichkeit vorbei“, hatte sie gesagt. Und den Kopf geschüttelt. „Die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen wandelt sich und wir werden das nicht aufhalten können. Oder dürfen.“
Lenzendorf unterrichtete am liebsten draußen auf der neuen Anlage Sport, auch wenn die Zahl der Schüler, die ihn dafür hassten, zunahm, ließ er sich davon nicht abbringen. Lenzendorf war altmodisch, er schwor auf Bewegung ... am besten draußen an der Luft. Ohne jedoch einen Körperkult zu betreiben. Er selbst wollte einfach nur fit sein, und, ja, er wollte vorbereitet sein. Zu jeder Zeit. Vorbereitet ... manchmal musste er schnell sein und zupacken können ... aber das waren nur Herausforderungen, denen er sich stellen konnte.
Plötzlich herrschte Stille im kleinen Besprechungsraum.
Alle hoben ihre Köpfe und schauten zu Lenzendorf.
Er spürte Feindseligkeit und Unverständnis. Und ... er spürte Überraschung und Erstaunen.
Er drehte sich zu den Kollegen und dachte: Auch das Kollegium brauchte dringend Bewegung und Modernisierung ... und moralische Neuorientierung.
Oder lebten sie an der Lebenswirklichkeit vorbei?
Er seufzte.
Lenzendorf sagte selten etwas in Besprechungen. Besonders in solchen Besprechungen. In denen es um Schicksale von Schülern ging. Um schulisch bedingte Schicksale, Schicksale, die erst durch das Zusammentreffen von vollkommen fremden Menschen in dieser Einrichtung verursacht wurden. Es ging hier um die Zukunft der Schüler, der Jugendlichen, die ihr Leben noch vor sich hatten, die aber im Begriff waren, ihr eigenes Leben schon jetzt zu zerstören. Sie zerstörten es sich gegenseitig oder es wurde von Erwachsenen und Lehrern zerstört, weil hier Weltanschauungen und unausgeglichene Emotionen aufeinanderprallten. Die Kluft wurde immer größer, tiefer, breiter ... das Verständnis füreinander immer geringer. Die gemeinsame Schnittmenge wurde immer kleiner.
Bei den meisten war es Lenzendorf tatsächlich gleichgültig, weil es den Jugendlichen gleichgültig war. Zu viele der Schüler hatten eine immer skurriler werdende Vorstellung vom Leben, der Lenzendorf nicht mehr folgen konnte und wollte. Alles sollte easy sein und cool ... und alles sollte Spaß machen und das besonders auf Kosten anderer, die das alles gar nicht so spaßig fanden ... aber Hauptsache es wurde gelacht, aber immer über die Anderen, alles war erlaubt, solange es die Anderen betraf ... die Anderen, das konnte morgen schon ein anderer sein ... alles war schnelllebig, beliebig und unverbindlich geworden ... und verlor sich im Internet, doch da ging nichts verloren ... nichts ... das machten sich anscheinend die wenigsten bewusst.
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