Er hasste es hingegen, Türen im Rücken zu haben ... auch wenn er wusste, dass durch die Tür seines Arbeitszimmers niemand hereinkam, wenn er an seinem Schreibtisch saß und arbeitete oder Musik hörte ... oder sich die Bilder anschaute, die sein Fernseher ausstrahlte ...
Auf der anderen Seite des Raumes, genau gegenüber des Arbeitsbereiches, standen ebenfalls Regale an der Wand, in dem sich eine Stereoanlage und ebenfalls Musik-CDs befanden. Rechts und links in den Ecken standen Boxen. Er hört beim Arbeiten Musik. Laut. Klassik oder Rock-Musik.
Lenzendorf ging zum Schrank, nahm den Schlüssel, der hinter der Zierleiste auf dem Deckel lag und öffnete den Schrank. Im Schrank befand sich ein Fernseher. Er schaltete das Gerät ein und schaltete auf den Videokanal.
Auf dem Bildschirm erschien eine Frau. Sie saß nackt auf Betonboden. Sie hatte einen Metallring um den Hals. Am Metallring hing eine Kette, die führte zur Wand. Dort war die Kette mit einem weiteren Ring festgemacht.
„Guten Morgen“, sagte Lenzendorf.
Er hob die Hand und strich vorsichtig über den Bildschirm.
Die Frau hob den Kopf.
Als würde sie auf seine Berührung reagieren. Als hätte sie seine Worte gehört.
Er lächelte und ein Schauer lief seinen Rücken herunter ... er spürte das plötzlich aufkommende Zittern und Pulsieren ...
„Ah“, sagte Lenzendorf, „du bist schon wach.“
Er zog seine Hand zurück. Seine Fingerspitzen kribbelten.
Als hätte tatsächlich eine Berührung stattgefunden ... Natürlich berührte sie ihn, ja, auch wenn sie nicht wirklich hier war, in diesem Raum, auch wenn er sie nicht anfassen konnte, berührte sie ihn ... sehr intensiv ... sie berührte ihn tiefer als irgendein Mensch einen anderen berühren kann ...
„Hast du gut geschlafen?“
Er spürte die Erregung und schüttelte sich, als ein weiterer warm prickelnder Schauer durch seinen Körper fuhr ...
Sie regte sich.
Er lächelte.
Er beobachtete die langsamen Bewegungen der Frau. Ein Finger, die Hand, einen Fuß, das Bein. Immer nur kurz. Sie machte nicht den Versuch, aufzustehen. Sie wusste, dass sie nicht aufstehen konnte. Nicht nur, weil sie an der Wand festgemacht war ... daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt ... am Anfang war das immer anders, es veränderte sich, früher oder später ... das war sehr unterschiedlich. Manche brauchten länger, um sich daran zu gewöhnen, sich nur sehr eingeschränkt bewegen zu können.
Er wusste noch immer nicht, was er mehr mochte: Wenn sie sich schnell daran gewöhnten oder wenn sie mehr Widerstand leisteten und sich scheinbar gar nicht gewöhnten und sich gelegentlich sogar noch wehrten ... Aber immer gab es irgendwann einen Punkt, da brach der Wille, da brach der Widerstand. Das war immer ein besonderer Moment. Wenn der Verstand siegte, wenn der Verstand dem Körper sagte: Lass es!
Auch wenn der Verstand dann meist schon aufgehört hatte ... zu funktionieren ... Lenzendorf lächelte milde. Das war der besondre Moment, wenn sie den Verstand verloren ... es war kein schleichender Prozess, manchmal, ja, aber es gab diesen Moment ... als würde ein Schalter umgelegt ... er hatte es gesehen ...
Es gab viele andere ... besondere Momente ... in Lenzendorfs Leben ... er hatte es sich so eingerichtet, dass es Momente des Glücks und der Zufriedenheit gab.
Er beobachtete gespannt das Bild.
Sie saß apathisch gegen die Wand gelehnt. Sie schwieg. Er meinte zu sehen, wie sie den Kopf vor und zurück bewegte, nur ein wenig, aber immer wieder, vor und zurück, als würde sie schaukeln ...
War das Hospitalismus?, fragte er sich.
Lenzendorf sah an ihrem Körper hinunter.
Sie saß in einer Pfütze.
„Oh“, sagte er tadelnd. „Du hast es nicht mehr ausgehalten. „Hm! Das ist nicht schön. Nein“, er schüttelte leicht den Kopf und schaute verdrossen, „das ist nicht schön.“
Er hob tadelnd den Finger.
Er schaute noch einen Moment auf den Bildschirm, es tat sich nicht mehr viel, er nickte, schaltete das Gerät aus und schloss die beiden großen Flügeltüren des Schrankes, schloss ab und legte den Schlüssel zurück hinter die Zierleiste auf den Schrank. Er drehte sich um und schaute aus den Fenstern nach draußen. Er blickte über Wiesen und Felder zum Wald. Auch auf dieser Seite des Hauses hatte man den Eindruck, als würde weit und breit keine Menschenseele wohnen, keine Häuser, keine Straßen, keine Wege. Nur Natur, nur Ruhe.
Er sah, wie ein verspätetes Reh im Wald verschwand.
Er ging zum Schreibtisch, nahm seine Tasche, die er gestern Abend bereits gepackt hatte und die neben dem Schreibtisch stand, verließ den Raum, schloss die Tür und ging nach unten. Viel zu packen hatte er nicht. Das, was wichtig für den Unterricht war, befand sich in seinem Kopf.
Er ging runter ins Erdgeschoss in die Küche. Das Holz der alten Treppe knarrte. Mae-Ying hatte mittlerweile das Frühstück vorbereitet. Lenzendorf roch den frischen Kaffee. Er liebte den Duft von frisch gebrühtem Kaffee am Morgen. Er lächelte.
„Guten Morgen, Eric“, sagte sie in ihrem unnachahmlichen Akzent, als er die Küche betrat. Sie stand neben dem Tisch. Sie hatte ihn erwartet. Sie war bereit. Wie jeden Morgen.
„Guten Morgen. Mae-Ying.“
Er schaute sie an.
Sie senkte den Blick. Und wartete.
Sie wusste, was von ihr erwartet wurde.
Er setzte sich. Mae-Ying nahm die Kanne und goss heiß dampfenden Kaffee in seine Tasse. Lenzendorf nickte. Mae-Ying goss etwas Milch in die Tasse. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Sie machte das sehr gut.
Lenzendorf lächelte.
Er schaute über den gedeckten Tisch. Und stutzte. Das konnte nicht sein. Er schaute noch einmal über den Tisch, es blieb falsch, er runzelte die Stirn und hob den Kopf.
„Etwas fehlt“, sagte er.
Sie schaute über den Tisch.
Er schaute sie an.
Sie senkte den Blick.
„Der Orangensaft“, sagte er, „du hast den Orangensaft vergessen.“
Sie drehte sich um, nahm ein Glas aus dem Schrank und holte eine Flasche Orangensaft aus dem Kühlschrank, goss ein und stellte das Glas vor Eric auf den Tisch.
Lenzendorf legte die Hand um das Glas.
„Jetzt ist der Orangensaft zu kalt.“
„Tut mir Leid“, sagte Mae-Ying.
Sie drehte sich um und holte den Toast, der inzwischen fertig war. Sie legte die zwei Scheiben Vollkorntoast auf einen Teller und stellte ihn vor Lenzendorf auf den Tisch. Er schaute auf die Flasche in ihrer Hand. Dann schaute er ihr ins Gesicht.
„Das ist kein frisch gepresster Orangensaft“, sagte er ruhig.
„Nein.“
Er schaute sie an. Und seufzte.
Der Tag hat gut angefangen, dachte Lenzendorf. Würde er jetzt so weitergehen?, fragte er sich. Hatte er bereits jetzt, noch vor dem Frühstück, den Punkt erreicht, an dem der Tag kippen würde?
„Wir haben keine Orangen mehr“, sagte sie und schaute auf den Boden.
„Das hättest du mir sagen müssen.“
„Ja.“
„Gestern.“
Er schaute sie noch immer an und dann wieder die Flasche in ihrer Hand.
„Gestern Morgen.“
„Ja.“
„Du warst einkaufen?!“, sagte er und es klang so, wie es klingen sollte: überrascht, verwundert, ungläubig. Mahnend.
„Ja.“
Sie senkte den Kopf und schaute auf den Boden.
„Du warst einkaufen und hast mich nicht gefragt.“
„Nein.“
Er sah, wie ihre Hand zitterte.
„Du weißt, dass du mich fragen musst.“
„Ja.“
Ihre andere Hand zitterte ebenfalls. Der Orangensaft in der Flasche bewegte sich.
„Ich hab vergessen ... sagen.“
„Das ist gegen die Regel.“
„Ich hab vergessen ...“
„Das ist gegen die Regel“, unterbrach er sie.
„Ja, aber du ... immer Orangensaft frisch und ich ...“
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