Er schüttelte den Kopf.
Das größte Problem war die Bewegung oder besser, die mangelnde Bewegung der Heranwachsenden.
Für die meisten dieser Jugendlichen war Bewegung reduziert auf die Bewegung ihres Daumens, um die Tasten und Apps ihrer Smartphones zu drücken und zu berühren ... oder mit den Fingern drüber zu streichen. Sie hatten vermutlich mehr Gefühl in ihren Daumen als in ihrem Penis oder in ihrer Vagina. Und sie hatten wohl auch ihr Smartphone öfter in der Hand als ihren Schwanz oder ihre Finger an den Display als in ihren Mösen ... wobei sie die ja nicht in die Hand nahmen, sondern berührten oder etwas reinsteckten ... wenn sie es denn auch wirklich taten ... ihre Smartphones vielleicht?!
Lenzendorf lachte.
Er war sehr gern Sportlehrer, aber die Bewegungslosigkeit der Jugendlichen wurde zunehmend zu einem Elend, auch wenn sie meinten, in der Welt zuhause zu sein. Auch wenn sie meinten die Welt in den Händen zu halten. Die große Welt in ihren kleinen Händen.
Und das war nicht ihr Schwanz!
Nein, ihr Schwanz war nicht die Welt. Auch ihre Mösen nicht. Nein, ihre Welt war zu einem leuchtenden Display geschrumpft, auf dem sie sich Schwänze und Mösen anschauten. Das war ihre Realität geworden.
Die meisten Menschen um ihn herum, zumindest der Großteil derer, die die Zukunft waren, also, besonders die Kinder und Jugendlichen, aber auch sehr viele Erwachsene schienen unter einem suggerierten und deswegen permanenten Mangel zu leiden.
Jeder wollte und musste immer und aktuell, cool, hipp, trendy und auf dem neusten Stand der Dinge und der Technik sein. Wer das nicht schaffte, der litt unter Mangel. Alles war im Fluss und in Bewegung, alles ging schnell und es gab keinen Stillstand, kein Durchatmen ... Wer stehen blieb, war out ... und spürte diesen nagenden Mangel ...
Dem Mangel konnte nur durch Konsum entgegengewirkt werden ... Konsumieren bedeutete kaufen und haben müssen, aber auch einzuwerfen und durchzuziehen ... um teilnehmen zu können ... das Konsumieren selbst war zur Droge geworden.
Ich konsumiere, also bin ich ...
Lenzendorf schüttelte sich.
In zwei Tagen, am Freitag, hatte er Geburtstag. Er wurde fünfundvierzig Jahre alt. Und er würde sich selbst das schönste Geschenk machen ... er wusste selbst am besten, was ihm gefiel und was ihm Freude machte. Deswegen die Anspannung.
Lenzendorf lächelte.
Er liebte diese Anspannung vor einem dieser besonderen Tage. Nicht nur, weil er Geburtstag hatte. An diesem Freitag war es wieder einmal soweit ... weil es sein Geburtstag war, einmal im Jahr ...
Er trat fester in die Pedale und genoss die frische Morgenluft des Frühlings. Er atmete tief ein. Und spürte das Leben in sich.
Er liebte das Leben, das er führte, er liebte das Leben so, wie er es sich eingerichtet hatte ... und niemand, niemand und nichts würde ihn daran hindern es so zu leben wie er es wollte ... oder einschränken ... niemand! Niemand würde ihn einschränken oder beschränken ... nichts und niemand ...
Als er die Schule gegen halb acht erreichte, der Unterricht begann um viertel vor acht, war er hellwach, weil er nicht gerade erst aus dem warmen Bett gefallen war ... weil er sich bereits intensiv bewegt hatte ... nicht nur körperlich ... nicht nur deswegen war er den anderen bereits weit voraus und ... überlegen ...
Er war wach.
Nicht so, wie die meisten seiner Kollegen, die müde aus ihren Autos stiegen und träge und mechanisch grüßten, oder wie die meisten Schüler, die mit dem Bus, zu Fuß, ebenfalls mit dem Fahrrad kamen oder von den Eltern mit dem Auto direkt vor die Tür der Schule gebracht wurden und noch halb schliefen, während sie über den Schulhof und durch die Flure schlurften und sich wie ferngesteuert bewegten (weil sie genau das auch waren: ferngesteuert!) und sich mechanisch auswichen, gelegentlich selbst das nicht schafften, weil sie sich nicht wahrnahmen, während sie auf die Displays ihrer Handys, nein ihrer Smartphones! starrten. Ja, telefonieren und simsen, das konnten sie auch im frühmorgendlichen Halbschlaf, ja, das konnten sie anscheinend immer. Und fluchen und beleidigen, das konnten sie auch. Es war ein modernes Neandertal mit modernen, technisch gerüsteten Neandertalern! Nur dass sie ihr Leben nicht instinktiv lebten, sondern sich ihr Leben durch ihre Smartphones vorschreiben ließen ... und nicht mehr auf den Bäumen wohnten. Der einzige Unterschied zwischen Affen und ihnen? Die Banane.
Es war ein Elend.
Aber es war auch nur folgerichtig.
Er stellte sein Fahrrad ab, sicherte es mit einer Kette mit einem Zahlenschloss, betrat das Gebäude durch einen Seiteneingang und ging schnell, aber nicht hastig über den Flur zu dem Klassenraum, in dem er in den ersten beiden Stunden Deutsch unterrichten würde.
Keiner der Schüler, denen er begegnete, grüßte ihn. Sie waren mit sich selbst beschäftigt, noch nicht richtig wach oder folgten den Worten, die auf dem Display erschienen oder hörten auf die Stimmen, die ihnen irgendetwas durch die Ohrstöpsel in ihre Ohren säuselte ... Musik oder ... Anweisungen ...
Wie Zombies!, dachte Lenzendorf. Obwohl Zombies ja keine Anweisungen mehr entgegen nahmen. Diese folgten nur noch einem einzigen niederen Instinkt.
Doch die meisten Menschen in diesem Gebäude bewegten sich so. Meistens. Und waren geistig auch auf dem Niveau von Zombies. Wie die Zombies in dieser Serie. Er schaute nicht sehr viel fern. Aber gelegentlich fand sich im Fernsehprogramm doch das eine oder andere Sehenswerte: Dokumentationen und historische und kulturelle Sendungen und jetzt diese Serie über den Untergang der sozialen menschlichen Gesellschaft und Kultur durch eine Seuche, die die Menschen in Untote verwandelt, in Zombies. Aber wenn er sich morgens so umschaute, dann sah er bereits jetzt und hier, ohne Seuche, ohne Virus, herumstreunende Untote, eben Zombies! Und er, Lenzendorf befand sich unter ihnen und wollte nicht erkannt werden. Sonst würden sie ihn beißen, infizieren und auffressen oder einer von ihnen werden. Nein. Er wollte am Leben bleiben und deswegen durfte er nicht weiter auffallen. Aber nicht deswegen hatte auch er ein Smartphone, nicht deswegen ...
Er bewegte sich vorsichtig und vor allem unauffällig. Er tat so, als gehörte er dazu ... ging unter im Strom der Masse ... er tat so als wäre er einer von ihnen und war doch ein anderer ... Lenzendorf.
Lenzendorf, sagte er sich, das ist ein anderer ...
... und er fragte sich wieder einmal, was wohl geschehen würde, wenn er diesen Zombies alles wegnehmen würde, womit sie sich von sich selbst ablenkten? Computer, Smartphones, Internet, Filme, Chats ... und so weiter ... was würde bleiben?
Eine leere Hülle, dachte Lenzendorf.
Die hatte er ohnehin vor sich, leere Hüllen ...
Er schüttelte den Kopf.
Nichts, dachte er, nichts würde bleiben und das ist noch zu viel.
„Herr Lenzendorf!“, rief jemand hinter ihm.
Er ging weiter.
„Herr Lenzendorf!“
Wie er das hasste. Diese Aufdringlichkeit. Und diese Stimme.
Nein, es war nicht die Stimme. Es war sein Name, auch wenn er den ja gar nicht hasste, nein, es war die Tatsache, dass er gemeint war und er sich angesprochen fühlen sollte, wenn sein Name gerufen wurde. Es gab an der Schule nur einen Lenzendorf und das war er.
Auch die Stimme war nicht das Problem und eigentlich auch nicht die Person, der die Stimme gehörte, nein, sie war nicht das Problem.
Die Tatsache, dass er gerufen und gemeint war, war für sich genommen, als würde der Zahnarzt direkt beim Bohren den Nerv treffen ... wenn er seinen Namen hörte, wurde er daran erinnert, dass er sich in einem sozialen Gefüge befand und bewegte. Das war das Problem.
Er blieb stehen und drehte sich um. Lächelte. Es fiel ihm leicht. Er schaltete in den Arbeitsmodus. Es funktionierte. Er lächelte. Er wusste wie man lächelte.
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