Doch Lenzendorf scheute sich nicht, wenn es zwingend notwendig war, den Leuten ihren Platz im Universum aufzuzeigen ... ihre Bedeutung für das große Ganze. Es war schmerzlich für die meisten, aber unvermeidbar ... ihnen zu zeigen und zu erklären, wie unbedeutend ihr Kind und sie selbst waren ... im großen und ganzen Universum ... ein Sandkorn und ein anderes am Strand ...
Ob Lenzendorf dafür immer die passenden Worte fand, wusste er nicht wirklich. Manche dieser Gespräche fanden kein wirkliches und einvernehmliches Ende ... wenn Eltern einfach das Klassenzimmer verließen und irgendwelche Unflätigkeiten vor sich hin flüsterten oder auch schon einmal schrien ... blieb er ganz ruhig. Meistens.
Andererseits hatte es auch den Vorteil, dass die meisten Leute ihn in seiner Rolle als Lehrer wahrnahmen. Dass er ein Privatleben hatte, trat meist in den Hintergrund. Er wurde zumeist als Lehrer angesprochen, selten als Eric Lenzendorf.
Und: Sein Privatleben ging niemanden etwas an.
Das hatte wirklich Vorteile.
Im Istanbul Palace fand er, was er brauchte.
An diesem Mittwoch Orangen.
Alles andere kam am Freitag zu ihm, freiwillig und durchdrungen von Erwartungen, Verlangen und Erregung.
Und hier im Istanbul Palace unterhielt man sich nicht einmal über das Wetter.
Wie angenehm.
Lächelnd verließ er den Markt.
Als Lenzendorf nach Hause kam, wusste er, dass Mae-Ying die Vorbereitungen für das Essen bereits erledigt hatte. Das war nicht schwer. Er aß nicht exotisch oder ausgefallen und vor allem nicht besonders viel oder üppig. Die Mahlzeiten bestanden durchweg aus Gemüse oder Salat, hier achtete er jedoch auf Abwechslung und das saisonale Angebot, es gab in der Nähe einen Biobauern, der Gemüse-Kisten anbot, deren Inhalt sich nach der Jahreszeit richtete, sowie Kartoffeln, Nudeln oder Reis, Naturreis, darauf legte er großen Wert, nur gelegentlich und zu bestimmtem Gemüse, bevorzugte er „normalen“ Reis, und dann natürlich Fleisch. Hauptbestandteil jeder warmen Mahlzeit. Also mindestens einmal am Tag. Jeden Tag gab es auf jeden Fall ein Stück Fleisch. Gelegentlich verspürte Lenzendorf großen Appetit, ja geradezu Hunger, dann durfte das Stück Fleisch entweder etwas größer sein, er portionierte das Fleisch selber, oder er nahm zwei Stücke Fleisch. Er verwendete viel Zeit und Muße für das Portionieren des Fleisches. Es war wie bereits das Zerlegen ein eigenes wichtiges Ritual.
Zerlegen und portionieren. Ganz wichtig. Er tat es mit Hingabe. Imme rund jedes Mal wieder. Als gebe es nichts anderes auf dieser Welt ...
Hin und wieder aß er abends auch noch etwas Fleisch ... deswegen sorgte er immer für Nachschub. Aber das war ja kein Problem, nicht für Lenzendorf.
Er sorgte selbst dafür, dafür war Mae-Ying nicht zuständig, er sorgte dafür, dass der Gefrierschrank nicht leer wurde ...
An diesem Tag hatte er großen Hunger.
Ob das an Frau Michelbach lag?, fragte er sich.
Zwei bis dreimal im Monat kochte Mae-Ying thailändisch. Für das Fleisch dafür sorgte trotzdem Lenzendorf. Das ließ er sich nicht nehmen. Ja, beim Fleisch war Lenzendorf sehr eigen. Da war er wählerisch. Wie bei so vielen anderen Dingen auch.
Aber er liebte thailändische Küche, die Gewürze und die Zubereitung des Gemüses und die Gerüche, die bei der Zubereitung entstanden. Bei diesen Gerichten bevorzugte Lenzendorf diesen vollkommen gehaltlosen, geschälten weißen und nahezu geschmacksfreien und klebrigen Reis. Der musste einfach sein. Und Mae-Ying war mittlerweile eine sehr gute Köchin. Und nicht nur das. In den vergangenen fünf Jahren, die sie nun bei ihm war und in seinem Haus wohnte, hatte sie viel gelernt. Lenzendorf hatte ihr viel beibringen müssen, sie war in der Regel jedoch sehr gelehrig und folgsam. Er war eigentlich sehr zufrieden. Und Mae-Ying schien auch zufrieden zu sein, sie hatte keinen Grund unzufrieden zu sein oder sich gar zu beschweren, sie hatte alles, was sie brauchte und Lenzendorf war durchaus großzügig. Gelegentlich aufkommende Wünsche erfüllte er durchaus gern. Aber Mae-Ying hatte gelernt genügsam zu sein. Sie hatte nur wenige Wünsche und äußerte die gelegentlich auf ihre sehr unbeholfene Art und Weise. Aber Lenzendorf war aufmerksam und achtsam und kam ihren Wünschen nach ... wenn sie darum bat, kam er den Wünschen nach ... gelegentlich sehr gern.
Aber, und das wusste Lenzendorf nur zu gut, Zufriedenheit war gefährlich. Zufriedenheit war kein guter Nährboden für ein demütiges und respektvolles Leben. Zufriedenheit führt zwangsläufig zu Bequemlichkeit und Bequemlichkeit führt zu Müßigkeit und Trägheit und all das führt eines Tages zum Verlust des Respekts und zum Verlust der Demut. Deswegen mussten manche Wünsche unerfüllt bleiben ...
Respekt und Demut. Beides war unabdingbar für ein anspruchvolles Leben. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit war beides jedoch zunehmend seltener anzutreffen.
Die Menschen hatten keine Demut mehr vor dem Geschenk des Lebens einhergehend mit der Respektlosigkeit gegenüber dem eigenen Leben und dem Leben ihrer Mitmenschen.
Die Werte hatten sich verschoben.
Gier und Begehren, Verlangen und kurzfristige Bedürfnisbefriedigung ... das waren die neuen Werte ...
Abends aß Lenzendorf Vollkornbrot mit Wurst oder Käse. Dazu Tomaten oder Gurken oder Paprika. Er achtete darauf, dass seine Verdauung funktionierte. Er achtete besonders darauf, dass sich der Rhythmus des morgendlichen Stuhlganges nicht änderte. Es passte nicht in den täglichen Ablauf, wenn er etwas mit sich herumtragen musste, was er bereits am Morgen los sein wollte und konnte. Ein morgens nicht geleerter Darm konnte einen den ganzen Tag verderben. Der Tag ließ sich einfach beschwingter angehen, wenn dieser unnötige Ballast weg war. Er hatte etwas Befreiendes, der regelmäßige morgendliche Stuhlgang.
Alkohol war komplett tabu. Da gab es keine Diskussionen, das galt auch für Mae-Ying, die sich bei ihrer Ernährung zum größten Teil nach Lenzendorf richtete. Sie aß vorwiegend Reis mit Gemüse und Fleisch, gelegentlich auch mal Huhn oder Ente. Und natürlich Obst. Darauf bestand Lenzendorf. Und zum Frühstück eben frisch gepressten Orangesaft. Allem anderen traute er einfach nicht. Auch geschmacklich reichte kein gekaufter Orangensaft an frisch gepressten Orangensaft heran, er hatte es ausprobiert.
Auch Schokolade war nahezu tabu. Gelegentlich gönnte er sie sich, und dann teilte er sich Schokolade mit Mae-Ying. Sie hatte das Glück, so wie Lenzendorf auch, wobei es bei ihm nicht nur dem Glück geschuldet war, sondern seiner Disziplin und dem Respekt vor seinem eigenen Körper, Mae-Ying hatte also ebenfalls das Glück über einen schlanken Körper zu verfügen und auch ihr Körper schien Nahrung optimal zu verwerten, Überschüssiges konnte sich nicht ansammeln, weil es sofort verbrannt wurde. Deswegen, aber nicht nur deswegen, sondern weil Lenzendorf gute, wirklich gute Schokolade zu schätzen wusste, gönnte er sich und Mae-Ying hin und wieder Schokolade.
„Eine Schwäche müssen wir ja haben, ein Laster“, sagte Lenzendorf zu Mae-Ying und brach einen Riegel ab. „Jeder normale Mensch hat mindestens eine Schwäche und ein Laster.“
Mae-Ying lächelte. Und aß die Schokolade.
Wobei sie die Schokolade eigentlich nicht aßen, sondern im Mund schmelzen ließen, sodass sich der Geschmack voll entfalten konnte.
„Wenn schon sündigen“, sagte Lenzendorf, „dann geschmackvoll. Mae-Ying.“
Sie nickte und lutschte das Stück Schokolade.
Lenzendorf achtete sehr darauf, es Mae-Ying so einfach wie möglich zu machen. Er schloss Fehlerquellen durch Listen aus. Aber nicht nur seine Listen, sondern auch Routine und Regeln sorgten für einen reibungslosen und beinahe optimalen Ablauf des Alltags. Und dann gab Lenzendorf natürlich eindeutige und klare Anweisungen, die keinen Platz für Spielräume und Interpretationen ließen. Es waren keine komplexen Sätze, die er benutzte, um Anweisungen zu formulieren. Und, und das war besonders wichtig, mit diesem Phänomen sah er sich jeden Tag vor allem in der Schule bei den Schülern konfrontiert, daher vermied er es mehrere Anweisungen gleichzeitig zu geben. Immer eines nach dem anderen. Das war besonders wichtig. Menschen waren durch schlecht formulierte und durch unnötige und übereilt aneinandergereihte Anweisungen schnell überfordert. Das galt im Übrigen in zunehmendem Maße auch für Lenzendorfs erwachsenen Mitmenschen. Die Merkfähigkeit der Schüler, der Menschen grundsätzlich, hatte erschreckend nachgelassen. Es war anscheinend nicht mehr nötig, sich die einfachsten Dinge oder mehrere einfache Arbeitsanweisungen zu merken. Über einen kurzen oder auch längeren Zeitraum. Es ging ja nur noch um Informationen, nicht mehr um Wissen, Informationen konnte man ja „googeln“. Zu eigenen und notwendigen komplexen Gedankengängen waren immer weniger Menschen fähig oder bereit.
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