Endlich wurde es wieder still und er begann zu sprechen.
„Freunde, es ist schon viel gesagt worden. Wir haben beschlossen gegen die Menschen zu ziehen und uns nicht alles bieten zu lassen.
Habt ihr euch auch darüber Gedanken gemacht, wie wir das anstellen wollen?
Hat auch nur einer von euch einen Vorschlag zu machen, wie wir die Menschen dazu bewegen können, kein Gift mehr zu streuen?
Denn über eines müssen wir uns im Klaren sein.
Wir können genauso wenig ohne die Menschen leben, wie sie ohne uns.“
„BUHHHHH“
Der Sprecher ließ sich von den unflätigen Zwischenrufen einiger aufgebrachter Jungmäuse nicht aus der Ruhe bringen.
„Ja, es ist wahr. In unserer heutigen modernen Zivilisation können wir es uns nicht erlauben, einen Krieg mit den Menschen anzufangen. Wir brauchen sie und ihre Vorräte, und sie brauchen uns, um ihren Unrat zu beseitigen.“
„BUUHHH“
„Seht euch doch an. Seht euch alle genau an. Wie sehen eure Bäuche aus. Sind sie prall und rund, oder habt ihr Hunger?“
Stille.
„Ja, ihr habt hundsgemeinen Hunger. Deswegen dürfen wir nicht übereilt an die Sache herangehen. Kampf gegen den Hochmut der Menschen. Alles schön und gut, aber alles zu seiner Zeit. Im Augenblick ist es für uns wichtiger, ihre Fallen zu erkennen und große Vorräte an Lebensmitteln anzulegen. Keine Maus ist mit leerem Magen mutiger als mit vollem. Seid klug und erkennt die Fallen der Menschen.
Das ist alles, was ich zu sagen habe.“
Die Mäuse waren nachdenklicher geworden. Aber sie hatten keine Zeit lange über die Worte zu sinnieren, denn schon stand der nächste und letzte Redner auf der Bühne.
„MÄUSE!“; brüllte er mit scharfer Stimme, so dass viele unwillkürlich den Kopf einzogen.
„Ihr habt Reden gehört, habt in eurem Übermut einen Beschluss gefasst, und seid dann nachdenklich geworden.
Mit elf Stimmen gegen eine, die den sofortigen Krieg wollte, hat der Rat folgendes beschlossen.
Wir wollen die Menschen dazu zwingen, dass sie uns als gleichberechtigte Geschöpfe unter der Sonne ansehen. Dazu brauchen wir Wissen, denn nicht zuletzt heißt es: Wissen ist Macht.
Wir müssen ihre Wissenschaften erlernen, um neben ihnen bestehen zu können. Erst wenn wir die wichtigsten Gebiete ihrer Lehren gründlich studiert haben, wird es uns möglich sein, einen Krieg mit ihnen zu beginnen.
Freunde, im Vergleich zu ihnen sind wir schwach. Körperlich zumindest. Doch unser Wille ist stark.
Der Rat hat beschlossen, fünf Mäuse aus unserer Mitte auszuwählen und sie auf eine weite Reise in ihre wissenschaftlichen Zentren zu schicken.
Fünf Mäuse für ihre fünf wichtigsten Wissenschaften.
Eine Maus soll in die Politik gehen, und alle Tricks und Schliche erlernen, die man kennen muss, um sämtliche Mäuse der Region zu einer schlagkräftigen Truppe zusammen zu schließen.
Eine Maus in die Medizin, um unsere Verwundeten und Kranken zu heilen.
Eine in die Technik, um ihre wunderbaren Maschinen zu verstehen.
Eine in die Wirtschaft, um ihren Handel zu begreifen, und eine soll zum Militär gehen, um die Taktik der modernen Kriegsführung zu ergründen, damit wir schon im Voraus wissen, was der Gegner plant.
Sobald die fünf der Meinung sind, dass sie alles Wesentliche gelernt haben, sollen sie zurückkehren und alle anderen mit ihrem Wissen unterrichten.
Dann meine Freunde, erst dann sind wir bereit.
Dann können wir den Kampf beginnen und dann-
WERDEN WIR AUCH SIEGEN!“
Jubel, unbeschreiblicher Jubel brach aus. Wer gedacht hätte, das samtweiche Mäusepfötchen nicht auf den Boden stampfen können, dass die Erde bebt, hat sich gewaltig getäuscht. Volle zehn Minuten dauerte es wohl, bis die Menge sich wieder beruhigte. Schließlich, die Mäusemenge machte immer noch einen schaurigen Lärm, trat der Ratssprecher wieder auf die Bühne, hob kurz die Vorderpfote und augenblicklich kehrte Stille ein.
„Mäuse, seid vernünftig“, sprach er mit ruhiger, klarer Stimme, „wir wollen den Feind nicht eher wecken, als bis wir zum Kampf bereit sind. Ihr aber weckt mit eurem Getöse die ganze Stadt auf. Geht in Ruhe nach Hause und freut euch, dass wir es geschafft haben, eine Entscheidung zu treffen, die uns auf lange Sicht viel Kummer ersparen wird.
Und nun zum letzten und endgültigen Punkt:
Alle tapferen und intelligenten Mäuse, die jung genug sind eine solche Reise zu überstehen, und die sich zutrauen, zu den Menschen zu gehen und von ihnen zu lernen, mögen sich anschließend in der Ratshöhle melden.“
Die Versammlung löste sich schweigend auf. Minuten später war der Platz wie leergefegt. Nur noch das zertretene Gras ließ vermuten, dass an diesem Ort eine der größten Mäuseversammlung seit vielen, vielen Jahren abgehalten worden war.
„Ich will es kurz machen“, sprach Tom, „ich bewarb mich neben hundert anderen Mäusen und wurde für den Bereich Politik ausgewählt.
Schon am nächsten Tag rüsteten wir uns für die lange Reise.
Die letzten Krümel wurden aus den Vorratshöhlen zusammen getragen und uns als Proviant mitgegeben. Der Rat erteilte jedem von uns streng geheime Instruktionen und zwei Tage später brachen wir in fünf verschiedene Richtungen auf, um nicht zufällig gemeinsam in eine Falle zu laufen.
Ich sage euch, Politik ist ein schwieriges Geschäft, denn selbst im Privatleben verhalten sich Politiker politisch und sprechen nie das aus, was sie wirklich denken. Man muss in der Lage sein, sich in die Gehirnwindungen eines Politikers hineinzuversetzen um ihn zu verstehen, denn schließlich setzt Lernen Verstehen voraus.
Es hat einige Zeit gedauert, doch ich sage euch, es ist mir gelungen, hinter die Käserinde zu kommen. Man braucht viel Pfotenspitzengefühl, um sich zwischen all den unnützen Worten zum Kern der Sache durchzuschlängeln.
- In medias res gehen -, wie der Lateiner sagt.
Vor meiner Abreise versuchte ich mir einen Plan zu machen, wie ich vorgehen wollte. Im Grunde war der Plan ganz einfach, denn ich sagte mir: Einfachheit zeichnet gute Pläne aus.“
„Zuerst“, dachte ich, „suchst du den Ort wo Politik gemacht wird, dann gehst du hin und lernst alles, was man über Politik lernen kann.“
Der Plan ging auf. Er musste aufgehen, einfach wie er war.
Die Durchführung meines Planes war allerdings weit komplizierter, als ich mir in meinen kühnsten Jung-mäuseträumen vorgestellt hatte. Teil eins meines Planes, festzustellen, wo die große Politik gemacht wird und dorthin zu gehen, war leicht. Nachdem ich einen Tag gewandert war, glaubte ich weit genug von der Stadt des Grauens entfernt zu sein und beschloss, mich bei den Menschen umzusehen. Gegen Abend erreichte ich ein kleines Dorf. In der Dämmerung suchte ich mir ein großes Haus, von dem aus ich mit meinen Nachforschungen beginnen wollte. Die Nacht brach herein und ich schlich durch ein offenes Kellerfenster ins Innere.
Ach du je, dachte ich, nachdem ich mich gründlich im Keller umgesehen hatte. In jeder Ecke stand mindestens eine Mausefalle. Die Fallen mussten schon seit Jahren dort stehen, denn in einigen der Fallen war der Käse derart vertrocknet, dass er nicht mehr das leiseste Düftchen von sich gab.
„Wo bin ich hier nur gelandet“, dachte ich. Es hatte ganz den Anschein, als ob die Bewohner ausgesprochene Mäusefeinde wären. Im Allgemeinen ist das bei Menschen nichts Neues, aber die Menge an Mausefallen, und die Tatsache, dass kein einziges Käsestückchen angenagt war, war mir unheimlich. Ich wollte das Haus schon wieder verlassen, um mir einen gemütlicheren Ort zu suchen, als plötzlich die Kellertür aufging und eine Frau, auf Beinen wie dreißigjährige Fichtenstämme, die Treppe hinunterschaukelte. Aus einer dunklen Ecke heraus beobachtete ich die Frau. Ich sah ihr tief in die Augen, sah wie sie ging, wie sie schnaufte. Keuchend blieb sie vor dem großen Kellerregal stehen, fuhr mit dem rechten Zeigefinger die Etiketten der Einmachgläser ab und zog dann ein Glas Sauerkirschen vom vorletzten Jahr heraus. Das Glas unter den rechten Arm geklemmt, mit der linken hielt sie sich am Geländer fest, stemmte sie sich wieder die Treppe nach oben.
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