Während die Maus näher kam, fielen ihnen noch mehr Merkwürdigkeiten auf. Ihr Fell war von verschiedenartig grauer Färbung und sie hatte es zu einer Art Frack wachsen lassen. Selbst die langen Halshaare waren ordentlich zu einer Fliege gekämmt.
Überhaupt machte die Maus einen außerordentlich wichtigen Eindruck mit ihrem Frack, der Fliege und dem würdevollen Gang. Irgendwie schien sie ganz und gar nicht in diese Gegend zu passen, so weit abseits von aller Kultur. Die Mütze tippte, dass sie eine Art Großstadt- oder Theatermaus war, die sich hierher verlaufen hatte.
„Tagchen Leute“, sprach die Maus weiter, als sie nahe genug herangekommen war.
„Ich bin Tom die Maus,
zog einst in die Welt hinaus
um zu sehn das Reichstagshaus
wo man lebt in Saus und Braus
und will jetzt wieder geh’n nach Haus.
Aus!“
Nachdem die Maus ihr Sprüchlein aufgesagt hatte, stellte sie sich vor die Mütze und streckte ihr zur Begrüßung die Pfote entgegen. Die Pfote war fein manikürt, die Krällchen blank gewienert und exakt in der Farbe der Fliege gehalten.
„Tag“, erwiderte die Mütze kühl. Der Stiefel brummte gar nichts.
Von der abweisenden Stimme ungerührt, ergriff die Maus einen Mützenfaden und schüttelte ihn ausgiebig.
„Freut mich außerordentlich, Sie kennen gelernt zu haben. Thimotheus mein Name. Thimotheus Politikus. Freunde nennen mich kurz Tom. Mit wem habe ich meinerseits das Vergnügen?"
„Das ist Stiefel und ich bin die Mütze“, stellte die Mütze sich und den Stiefel vor, indem sie mit dem Bommel auf den Stiefel und sich selbst deutete.
„Ich wäre dir allerdings dankbar, wenn du meinen Faden wieder losließest.“
Thimotheus Politikus oder kurz Tom ließ den Faden los.
„Warum so ruppig? In dieser Einöde freut man sich über jedes friedliche Wesen, das man trifft, sei es Hase, Igel oder Mütze. Wo soll es denn hingehen, wenn man fragen darf?“
„Nach Süden.“
„Hmm. Der Süden ist weit und groß. Irgend ein bestimmtes Ziel?“
Die Mütze ging nicht auf Tom’s Frage ein, sondern fragte zurück:
„Warum so neugierig? Du siehst uns, stürzt auf uns los, redest wie ein Wasserfall und jetzt quetschst du uns über unser Ziel aus. Du scheinst mir ein recht merkwürdiger Geselle zu sein.“
„Merkwürdig? Was bitte schön ist an mir merkwürdig?“
Die Mütze musterte Tom bedächtig von oben bis unten.
„Na ja“, meinte sie schließlich, „bis vor einiger Zeit wohnte ich bei einem Schneider. Täglich gingen hunderte von Mäusen dort ein und aus. Aber nie habe ich unter all den Mäusen eine mit Frack gesehen.“
„Also erstens ist das ein Smoking, ein wohlgezüchteter Fellsmoking, ein absolutes Einzelstück und zweitens gibt es für alles immer ein erstes Mal“, konterte Tom sofort.
„Smoking oder Frack, wo liegt da der Unterschied!“
„Also der Unterschied ist folgender... „ setzte Tom an, aber die Mütze fiel ihm ins Wort.
„Unwichtig. Auf das Wesentliche kommt es an.“
„Was zum Beispiel ist wesentlich?“
„Wesentlich wäre zum Beispiel, wieso du reden kannst? Auch habe ich unter den aberhunderten Mäusen des Schneiders keine einzige ein Wort sagen hören. Das Äußerste, was sie herausbrachten, war ein spitzes Quietschen, wenn man ihnen auf den Schwanz trat.“
„Die Frage sei zurückgegeben“, konterte Tom, „wieso redest du?“
„Bei Mützen ist das normal“, erwiderte die Mütze, schließlich leben wir für den Kopf der Menschen.“
„Siehst du“, sprach Tom, „und bei mir ist das auch normal. Ich lebte lange Zeit Wange an Wange mit einem Politiker.“
Die Mütze nickte verständnisvoll.
„Ihr wollt also nach Süden“, sprach Tom weiter.
„Unfreiwillig wurde ich vorhin Zeuge einer kleinen Meinungsverschiedenheit zwischen dir und dem Stiefel.“
„Der Stiefel bockt“ murmelte die Mütze und warf ihm einen bohrenden Seitenblick zu. „Keine Ahnung was er hat.“
Tom schritt zum Stiefel und betrachtete ihn eingehend von oben bis unten. Besonders sorgfältig untersuchte er die Beuge, wo der Vorderfuß in den Schaft überging. Er tastete das Leder ab, zupfte da und dort und steckte schließlich eines seiner manikürten Krällchen in eine tiefe Falte. Der Stiefel machte einen Satz zurück, als er so empfindlich in die Falte gebohrt wurde.
„Er wollte nicht ins Wasser?“, fragte Tom über die Schulter.
Die Mütze nickte mit dem Bommel.
„Hat er etwas gesagt?“
Bommelschütteln.
„Ganz klar, er schämt sich!“
Fädenrunzeln.
Neugierig hoppelte die Mütze näher. Noch einmal steckte Tom eines seiner manikürten Krällchen in eine tiefe Falte, und wieder machte der Stiefel einen Satz.
„Klarer Fall“, meinte er, „Sonnenklar!“
„Was ist, was fehlt ihm, ist er krank?“, fragte die Mütze besorgt.
Jetzt war Tom an der Reihe den Kopf zu schütteln.
„Nein, krank ist er nicht“, meinte er nachdenklich. „Er hat, sagen wir, Entzugserscheinungen.“
„Entzugserscheinungen, das klingt fachmännisch. Bist du Arzt?“
„Ich? Nein, Politiker, wie mein Name schon sagt.“
„Woher weißt du dann so sicher, was ihm fehlt?“, fragte die Mütze skeptisch.
„Um das zu sehen muss man kein Arzt sein“, meinte Tom leicht gekränkt. „Jedes Kind weiß, dass Leder Pflege braucht.“
Die Mütze äugte Tom schief an. Sie fühlte sich angegriffen von Tom’s spitzem Tonfall.
„Dass jedes Kind das weiß, heißt noch lange nicht, dass du auch mit deiner Diagnose richtig liegst“, gab sie spitz zurück.
„Ich habe noch keine Diagnose erstellt.“
„Verflixt, was fehlt ihm?“
„Fett“, sagte Tom trocken.
„Fett?“
„Ja Fett, oder Schuhwichse, oder Schuhcreme. Ganz wie du es nennen willst. Noch nie etwas von Schuhwichse gehört?“
„Natürlich - aber.“
„Was aber?“
Die Mütze zögerte. Fast wagte sie nicht mehr Tom noch weiter auszufragen. Sie ahnte, dass Tom’s Diagnose voll ins Schwarze traf.
„Woher bist du so sicher, dass ihm ausgerechnet Fett fehlt?“, fragte sie dann aber doch.
„Sieh ihn dir an. Sieh dir genau sein Leder an, und du wirst feststellen, dass er vollkommen ausgetrocknet ist. Er ist so trocken wie ein Bündel altes Stroh.“
Die Mütze rollte ganz nah an den Stiefel. Tatsächlich, überall hatte er Narben und Risse. Am schlimmsten sah es in der Beuge aus. Sie tastete ihn sanft mit den Bommelspitzen ab und war entsetzt über den Befund. In einen Riss konnte sie ihre haarfeinen Bommelfasern bis ins Innere vorschieben. Der Schweißgestank des Schneiders schlug ihr entgegen und es wurde ihr augenblicklich übel. Schnell zog sie den Bommel zurück. Einsichtig nickte sie Tom zu, jedoch nicht, ohne zuvor den Stiefel mit ihrem weichsten Flaum liebevoll gestreichelt zu haben. Das sollte so viel bedeuten wie:
„Verzeih mir, dass es so schlecht um dich steht, habe ich nicht gewusst. Ich werde in Zukunft immer aufpassen, dass du genug Fett bekommst.“
Tatsächlich hatte die Mütze bis zu diesem Augenblick nicht die leiseste Ahnung vom Wohlbefinden des Stiefels gehabt. Der Stiefel war ein stiller Geselle. Er lief munter durch die Welt und sprach nur im äußersten Notfall. Die Mütze hatte sich nie um ihn gesorgt, doch nun war das anders. Nun, da sie wusste, wie schlecht es um ihn stand, machte sie sich heftigste Vorwürfe. Ohne Umschweife wandte sie sich an Tom und fragte:
„Was meinst du, können wir tun? Dem Stiefel muss schnell geholfen werden!“
Tom ließ sich nicht von den mützlichen Gefühls-aufwallungen mitreißen. Sachlich antwortete er:
„Im Moment können wir überhaupt nichts für ihn tun. Ich wüsste nicht, wo man hier Fett auftreiben könnte. Drüben, auf der anderen Seite, ja, da kenne ich eine Schusterei. Aber hier?“,
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