Plötzlich war hinter Eckhard ein polterndes Geräusch zu vernehmen, worauf einige Leute neugierig ihre Köpfe nach hinten wandten. Aber Eckhard nicht. So sah er, dass eine junge Frau mit ihrer weißen Haube auch ihren Kopf wandte.
Für einen kurzen Moment sah er in das schönste Gesicht welches er je gesehen hatte.
Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Und dieser kurze Moment sollte ausreichen.
Danach sehnte er sich umso mehr, dass der Gottesdienst beendet sei. Er musste sie kennen lernen. In den wenigen Wochen, seit er in der Stadt wohnte, war sie ihm noch nicht begegnet. Aber nach der Kirche wollte er sie ansprechen. Für Kopfzerbrechen sorgte allerdings der Umstand, dass sie weit vorne stand, und somit zu den besser gestellten Ständen gehörte. Er dagegen war nur ein Bauernsohn. Doch war ihm das egal. Er musste sie wiedersehen, egal auf welche Widerstände er treffen würde.
Als der Gottesdienst beendet war, leerten sich zuerst die vorderen Reihen. Sie hatten ein Anrecht darauf. Eckhard und seine Familie mussten warten, bis sie an der Reihe waren, obwohl sie näher am Ausgang standen. Deshalb hatte er Gelegenheit, seinen Blick weiterhin wie gebannt auf die Dame seines Herzens zu richten. In dem Moment, als sie vorbei ging, schweifte auch ihr Blick in seine Richtung. Für einen Moment trafen sich wieder ihre Blicke.
War das ein Lächeln gewesen? Sein Herz mochte nahezu zerspringen.
Bald darauf war die Kirche geleert, und er streckte den Hals angestrengt, um einen Blick auf seine Angebetete zu erhaschen. Aber sie war schon die Treppe zum Marktplatz heruntergegangen.
„Geht nur schon nach Hause, Vater. Ich komme nach.“ Diese Worte raunte er Winfried zu, während er am Rande des Menschenstroms die Treppe hinuntereilte. Aus dem Augenwinkel sah er gerade noch , wie sie rechts zum Ziegenmarkt den Hügel hinunter entschwand. Er eilte hinterher, so schnell wie er konnte, doch dann sah er sie nicht wieder. Wohin war sie entschwunden? Nach rechts oder links? Hatte sie ein Haus der Seestrate betreten?
Es nützte nichts. Nach einer endlos wirkenden Zeit des Herumirrens gab er auf und ging in die Bleystrate zurück.
In den folgenden Wochen hatte Eckhard keine Zeit mehr, sich um den Verbleib des Fräuleins zu kümmern. In der Kirche hatte er sie an den Sonntagen auch nicht mehr erblicken können, auch wenn sein Blick ruhelos suchend umherwanderte. Täglich gingen er und sein Vater nach Lutowe, und erst abends zur Dämmerung kehrten sie nach harter körperlicher Arbeit durch das Steintor zurück. Allein, sie ging ihm nicht aus dem Kopf.
Seit Tagen war in diesem Sommer eine Gauklertruppe in der Stadt. Es war schon etwas Besonderes für die Bürger. An Kurzweil und Ablenkung vom harten Alltagsleben gab es sonst nicht viel. Daher waren die Darbietungen willkommen. Nachdem der Gottesdienst vorbei war, stellte sich die Truppe in der Mitte des Marktplatzes auf. Sofort wurden sie von einer großen Zahl von Bürgern umringt. Voller Freude verfolgten die Menschen mit offenen Mündern und voller Begeisterung die Attraktionen. Eine ältere Frau in einem knallbunten Kleid hatte den Reigen mit einer farbenprächtigen Vorstellung begonnen. Trotz ihres Alters verstand sie sich graziös zu bewegen, und während ihrer Verrenkungen ein langes Band in immerwährende schlangenartig sich windenden Schwingungen zu versetzen. Sie hatte noch gar nicht geendet, da gesellten sich zwei Jünglinge dazu, die um sie herum im Kreise auf Händen liefen, ohne abzusetzen.
Als die Frau geendet hatte, gesellte sich zu der bunten Truppe ein Flötenspieler hinzu, der es verstand, seinem Instrument schöne Melodien zu entlocken.
Bald waren die Menschen von der Unterhaltung eingenommen. Welche Abwechslung dies doch in der Abfolge der alltäglichen Tristesse war. Strahlende Augen überall.
Der Flötenspieler hörte auf, während eine Gruppe Artisten in der Mitte erschien. Vier Männer stellten sich nebeneinander auf, ihre Arme jeweils auf die andere Schulter des Nachbarn legend. Dann kamen drei weitere schlanke Artisten dazu, die sich breitbeinig auf die Schultern der vier unteren stellten. Die beiden Jünglinge, die vorher auf Händen gelaufen waren, krabbelten behände an der Vorderseite empor und stellten sich auf die drei. Ein wenig wackelte darauf die Konstruktion, doch behielt sie die Form, weil die untersten Männer es verstanden, das Gleichgewicht zu halten. Auf die Spitze der Pyramide kletterte zum Abschluss ein junger Mann, der sich jubelnd mit weit ausgebreiteten Armen von der applaudierenden Menge feiern ließ.
Die Pyramide löste sich auf, während ein Mann mit langen Beinkleidern auf Stelzen erschien. Ein wenig wackelnd stolzierte er auf dem Marktplatz umher. Öfters jauchzten die Männer und Frauen auf und führten die Hand – in Erwartung eines baldigen Sturzes – vor den Mund. Aber dieser blieb aus. Der Mann verstand es geschickt, das Gleichgewicht zu halten. Währenddessen gingen kleine Mädchen der Gauklertruppe mit Holzschalen herum und sammelten bare Münzen für ihre Vorstellung ein. Sie wurden gerne gegeben, da es den Menschen gefallen hatte.
Eckhard folgte lächelnd mit seinem Blick den Mädchen beim Geldeinsammeln. Da verharrte seine gleitende Bewegung.
Dort drüben stand sie. Auch ihr Blick war herumgewandert und haftete mit einem Mal auf ihm. Sie lächelte. Es war ihm selbstverständlich, dass dieses herzerfrischende Lächeln nur ihm gegolten haben konnte. Wie sein Herz auf einmal einen Sprung machte.
Eckhard verfolgte, wie sie ein paar Worte mit ihrer ebenfalls hübschen Freundin sprach, die neben ihr stand. Er sah, wie beide kicherten, wie es nur Mädchen können. Beide trugen sie ihre weißen Hauben. Seine Angebetete sah daraufhin kurz zu ihm hinüber und lächelte wieder. Aber dieses Lächeln endete abrupt, weil sie sich umdrehte und in der hinter ihr stehenden Menge verschwand, während ihre Freundin stehen blieb und den turnenden Männern zuschaute, die nun ihre Radschläge, Überschläge und turnerischen Übungen darbrachten. Zwei Fräuleins übten sich im Spagat. Mit weniger Freude an diesen Kunsttücken sah er der Gauklertruppe zu. Warum war sie fortgegangen?
Sofort war seine nie gänzlich erloschene Sehnsucht wieder völlig entbrannt. Es verlangte ihn nach ihr, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Natürlich hatte er schon viele Mädchen gesehen, die auch hübsch waren. Sicherlich war ihm auch bewusst, dass sein Vater es gerne gesehen hätte, wenn er Gudrun aus Drusen geehelicht hätte, aber obwohl sie nicht hässlich war, empfand er eben nichts für Gudrun. Das war für ihn entscheidend. Dann wollte er doch lieber warten, bis die richtige Frau kam, die sein Herz berührte. Und das schien diese unbekannte Schöne zu sein. Aber sein Traum war wieder zerplatzt, weil sie einfach verschwunden war. Er musste seufzen und sah zu, wie die Artisten ihre Kunsttücke vorführten.
„Bist du auch so gelenkig?“
Galten diese Worte ihm? Es war der süße Klang einer jungen Frau. Aber es konnte unmöglich ihm gelten, sondern eher einem der vielen, die hinter ihm standen.
„Bist du etwa mit Taubheit geschlagen?“
Mit einem Mal beschlich ihn das Gefühl, dass die Worte doch an ihn gerichtet waren. Unsicher drehte er sich um und sah geradewegs in das niedlichste Gesicht, welches sich ihm jemals offenbart hatte. Sie war es und lächelte in dieser verfänglichen Art, der er schon in der Kirche erlegen war. Aber auch eine Spur Frechheit und Verschlagenheit war nicht zu übersehen. Es war der Blick, der Frauen und Männern zu eigen ist, die es gewohnt sind ihren Willen durchzusetzen und zu bekommen, was sie begehren. Es war unüblich, dass eine Frau einen Mann ansprach. Es ziemte sich nicht, und das war genau das, was Eckhard sprachlos machte. Er fand nicht die richtigen Worte, so überrumpelt fühlte er sich.
„Du scheinst außerdem mit Stummheit gestraft zu sein. Wahrlich eine arme Seele bist du. Welche körperlichen Gebrechen quälen dich denn noch?“
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