Kurz konnte Anaïs zwei Rehe ausmachen, die am Waldrand standen und reglos über eine Wiese blickten. Fast beneidete sie die beiden, ihr Horizont schien so überschaubar. Ein Stück Wald, eine Wiese - keine Reise ins Ungewisse, keine Endlosliste von Fragen ohne Antworten, keine Furcht vor Verfolgern. Sie zog den Anorak über sich. Und wenn sie sich mit Tarifa täuschte? Wenn Maxine so etwas Banales wie Talkirchen gemeint hatte oder zum Beispiel Taormina? Vielleicht hatte die Polizistin recht gehabt. Dann war diese Reise vollkommen sinnlos. Es gab keine Beweise für irgendetwas.
Nein. Das Gefühl sagte ihr etwas anderes und manchmal war es gut, seinem Gefühl zu vertrauen. Anaïs schloss die Augen. Warum aber sagte ihr Instinkt ihr auch, dass sie etwas Wesentliches übersehen hatte? Als wäre etwas in ihrem Blickfeld aufgetaucht, das sie versäumt hatte richtig zuzuordnen. Aber was? Was war das gewesen? Oder wer? Im Stillen ließ sie noch einmal Gesichter und Situationen auf dem Bahnhof vorbeiziehen. Irgendwo hatte es einen Fehler in der Harmlosigkeit des Bildes gegeben. Oder hatte ihr Verfolgungswahn sie eingeholt? Später … sie würde später darüber nachdenken.
Sekunden darauf war Anaïs eingeschlafen.
„Jemand zugestiegen?“ Die Abteiltür rumpelte auf. „Ihren Fahrausweis, bitte.“
„Was?“ Anaïs schreckte auf. “Ach so … Moment.“ Der Schaffner hatte sie aus Traumtiefen gerissen. Sie wühlte ihr Ticket aus dem Rucksack und fuhr sich verstohlen mit dem Handrücken über den Mund. Hoffentlich hatte sie nicht geschnarcht. Na, egal. Sie reichte ihm das Ticket.
Er warf einen Blick darauf, stempelte es, nickte ihr zu und schloss die Abteiltür wieder hinter sich.
Und dafür hatte er sie aufgeweckt? Sie fühlte sich völlig gerädert. Erschöpft lehnte sie die Stirn gegen das kühle Glas der Fensterscheibe. Wie Scherenschnitte standen die laublosen, verzweigten Äste der Bäume vor dem Weiß des Himmels. Jedes Ästchen war zu sehen, hauchfein ins Morgenlicht gestrichelt. Die ersten Berge begannen sich ins Blickfeld zu schieben, sie würden wohl bald in Österreich sein. Wie spät war es eigentlich? Höchste Zeit, dass sie Leo anrief.
„Hier spricht der Anrufbeantworter von Leo und Bonzo Palme. Wir sind gerade nicht erreichbar …“
„Hallo, Leo! Schade, dass ich dich nicht selber erwische. Ich sitze gerade im Zug nach Genua und fahre ein paar Tage in den Süden. Raus aus dem Schneechaos. Maxine ist auch in die Richtung unterwegs. Ich melde mich wieder, aber jetzt mach ich erst mal das Handy aus, Akku sparen. Also mach dir keine Sorgen, wenn du uns nicht erreichst, und gib Bonzo einen Kuss auf die Nase von mir. Ich hab dich lieb. Tschüss, bis dann.“
Puh … Das war geschafft. Und ohne Lügen. Für einen Moment war ihr das wie der schwierigste Teil ihres Aufbruchs vorgekommen. Sie hielt nichts von Lügen, schon gar nicht gegenüber ihrem Großvater.
Nur, warum hatte sie unbedingt sagen müssen, er solle sich keine Sorgen machen? Alleine das Wort Sorgen zu erwähnen. Sobald er das hörte, würde er doch sofort anfangen, sich Gedanken zu machen. Shit. Aber es war jetzt auch nicht mehr zu ändern.
Sie schaltete das Handy aus und ließ es in ihre Tasche gleiten. Von Maxine würde sie so schnell nichts mehr hören. Wer immer bei ihr war, würde dafür sorgen, dass sie nicht noch mal anrufen konnte. Bei dem Gedanken wurde Anaïs schlagartig wieder flau im Magen. War es richtig gewesen, Leo nicht einzuweihen? Andererseits … was konnte er tun, außer sich aufzuregen? Er würde nur zu Hause auf und ab tigern und sich dabei immer mehr in die Sache hineinsteigern, das war schlecht für sein Herz. Seine Herzschwäche war etwas, worüber er nicht sprach. Leo betrachtete jedes körperliche Gebrechen – zumindest, wenn es um ihn selbst ging - als Charakterfehler.
Leo … Seit dem Tod von Anaïs’ und Maxines Eltern hatten die Mädchen bei ihm gelebt, in dem kleinen Haus nicht weit von München und doch absolut ländlich, nahe am Wald, wo der große Abrichteplatz für Hunde war, auf dem Bonzo, Leos großer, freundlicher Mischling, jeden Morgen trainiert wurde. Ein Funke von schlechtem Gewissen begann sich in Anaïs zu regen. Im Grunde hatte sie gehofft, ihr Großvater sei nicht zu Hause. Der Anrufbeantworter konnte keine unangenehmen, bohrenden Fragen stellen – im Gegensatz zu Leo. Nun, darüber würde sie später nachdenken, jetzt brauchte sie erst mal eine Toilette.
Im Gang war es kühl. Auf einem der ausklappbaren Notsitze vor dem Nachbarabteil kauerte ein junger Mann, eng in seine Jacke gewickelt, Rucksack und ein größeres Gepäckteil, das den Gang versperrte, neben sich. Einen Moment lang überlegte Anaïs, die andere Richtung einzuschlagen, dann verwarf sie den Gedanken. Die Klos dort waren deutlich weiter weg und sie trug zwar die kleine Umhängetasche mit Geld und Pass bei sich, aber alles andere war in ihrem Rucksack, und den wollte sie weder mitschleppen noch länger allein lassen.
„Entschuldigung“, murmelte sie und versuchte sich an dem Jungen vorbeizudrücken. Er fuhr hoch, er hatte wohl auch geschlafen. Anaïs blieb stehen, doch der Typ schaute desinteressiert zur Seite, als wollte er den Blickkontakt mit ihr meiden. Vielleicht Anfang zwanzig, schätzte Anaïs, das dunkle Haar im Nacken zusammengebunden und sehr attraktiv. Zu attraktiv für ihren Geschmack. Die hübschen Kerle waren immer so auf ihr eigenes Aussehen fixiert. Außerdem waren sie meistens Angeber.
Als sei ihm klar geworden, dass sein Wegschauen sie nicht automatisch auch zum Verschwinden brachte, sah er Anaïs plötzlich an. Ein unverwandter Blick, der ihr das Blut in die Wangen trieb. Sie fühlte sich ertappt, als hätte er ihre Gedanken gelesen. War es sexistisch, schöne Männer beschränkt zu finden? So ein Quatsch! Verwirrt und innerlich ihre helle Haut verfluchend, die jede Gefühlsregung sofort in flammende Farbe umsetzte, machte sie einen eiligen Schritt weiter. Der Zug legte sich überraschend in eine Kurve, Anaïs verlor die Balance und prallte gegen das Gepäckstück des Jungen, das einen hohlen Ton von sich gab. Du liebe Güte, das musste ein Musikinstrument sein. Anaïs klammerte sich am Fensterrahmen fest, um nicht noch einmal zu stolpern, aber da war der Typ schon aufgesprungen und hatte das Teil an sich gerissen. „Kannst du nicht aufpassen?“
„Tut mir leid! Das … das war keine Absicht“, stammelte Anaïs verblüfft. Was ging denn bei dem ab? Na ja, genau, wie sie sich’s gedacht hatte. Die attraktiven Kerle hatten alle irgendeinen Schaden. „Einer für die Statistik“, murmelte sie vor sich hin.
„Was?“ Er blickte sie misstrauisch an.
„Nichts.“ Sie würde ihm ganz sicher nicht auf die Nase binden, dass sie ihn attraktiv fand – und ihre Schlussfolgerung daraus auch nicht.
„Welche Statistik? Fällst du regelmäßig über anderer Leute Gepäck oder was?“
„Ich mache überhaupt nichts regelmäßig, ich bin einfach mal gestolpert. Warum sitzt du überhaupt hier im Gang und versperrst den Weg? Es ist jede Menge Platz in den Abteilen.“
Er zuckte die Achseln, zerrte den Reißverschluss der Tasche auf und zog eine Gitarre halb heraus. Helles Holz glänzte rötlich, die Saiten gaben einen sachten, hallenden Ton von sich, als er jetzt darüberstrich und behutsam am Steg rüttelte.
„O Mann, ich bin doch nur leicht dagegen gestoßen. Das wird sie wohl aushalten. Du tust so, als wäre ich voll reingetreten.“
„Nur checken“, murmelte er. „Na ja, sieht aus, als wäre sie in Ordnung.“
„Und wie wär’s mit einer stabileren Tasche?“
Seine Augen funkelten sie an. Sehr grün.
„Na dann.“ Anaïs ging weiter. Als sie ein paar Minuten später zurückkam, war der Typ mitsamt seiner Gitarre verschwunden, nur sein Rucksack lehnte noch neben dem hochgeklappten Sitz. Umso besser. Wahrscheinlich versuchte er gerade vergeblich, in der nächsten Toilettenkabine einen halbwegs hygienischen Platz für sein kostbares Instrument zu finden. Anaïs musste lächeln und verspürte gleichzeitig unverhofft einen winzigen Funken von Mitgefühl.
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