Mist, so kam sie nicht weiter.
Anaïs klickte auf Maxines Postfach. Auch hier kaum Nennenswertes, lediglich ein paar Mails von der Uni. Und was war mit Maxines Facebook-Konto? Hätten hier nicht ein paar persönliche Nachrichten sein müssen? Freunde, Studienkollegen? Seltsam. Bei Maxine war da in letzter Zeit nichts Neues mehr gepostet worden. Hatte ihre Schwester denn ihre sämtlichen Kontakte so reduziert?
Anaïs klappte das Notebook zu und starrte in die Dunkelheit. Maxine, wo steckst du? Was um alles in der Welt ist passiert? Sie schüttelte den Kopf. Wenn nur eines der Dinge, die hier standen, sprechen könnte. Eines der Bücher oder Bilder, das Bett, irgendetwas. Stumme Zeugen und hilflose Wächter.
Ein Geräusch schreckte sie auf. Ein Auto, vorne auf der Straße, aber … Wie lange war es eigentlich her, dass sie nach Hause gekommen war, eine Stunde früher als sonst?
Anaïs huschte in die Küche und knipste das Licht aus. Gut, dass der Raum nach hinten hinausging. Sie lief zurück in Maxines Zimmer und spähte am Vorhang vorbei hinaus. Verdammt! Ihr Bauchgefühl hatte recht gehabt. Ein Auto parkte vor dem Haus, eine der hinteren Türen stand offen, zwei Männer daneben, ein dicker und ein anderer, größerer. War das der mit dem Messergesicht? Schwer zu sagen; auch ob noch jemand im Wagen saß, konnte sie nicht genau erkennen. Der größere blickte plötzlich zu ihrem Fenster hinauf, als hätte er ihren Blick gespürt, und Anaïs fuhr zurück. Das Messergesicht, keine Frage. Selbst im diffusen Licht der Straßenlaterne hatte der Bruchteil einer Sekunde genügt, dieses markante Profil wiederzuerkennen. Ob er sie auch gesehen hatte hinter dem Vorhang? Und der andere musste der sein, der sich ihr in den Weg gestellt hatte, das Gesicht hatte sie nicht wahrgenommen, aber die Statur stimmte. Ihre Verfolger von vorhin … Die sie zu einem kleinen Ausflug hatten mitnehmen wollen. Was hatte der eine gesagt? Bevor du weitere Dummheiten machst, können wir dir auch gleich sagen, dass wir deine …
Die Erkenntnis war klar und sie kam blitzartig . Deine Schwester . Das hatte das Messergesicht sagen wollen, als Bugo dazwischengekommen war : … dass wir deine Schwester haben .
Nackte Angst pulsierte durch Anaïs’ Magengrube. Sie schlüpfte in ihre Converse, schnappte sich die Schlüssel und rannte los. In was für einen wahnwitzigen Alptraum war sie geraten? Was hatte das alles mit ihr zu tun? Oder mit Maxine?
Die beiden, die gerade vorgefahren waren, würde sie lieber nicht danach fragen.
Mit zitternden Händen zog Anaïs die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Behutsam, leise, nur kein Geräusch machen. Im gleichen Moment hörte sie, wie die Haustür im Untergeschoss aufschwang. Automatisch ging das Licht an. Drei Stockwerke ohne Lift, mehr trennte sie nicht von den Männern. Nach unten zu laufen war nicht mehr möglich. Also hinauf, zum Dachboden.
Kamen sie? Wenn ja, dann bewegten sie sich sehr leise. Anaïs’ eigene Schritte dagegen erschienen ihr laut und schwer, ihre Gummisohlen quietschten unvermittelt. Anaïs erstarrte. Hatten die sie gehört? Mit angehaltenem Atem horchte sie. Stille, dann unterdrückte Stimmen, Schritte. Langsam ließ Anaïs die Luft entweichen, zugleich schlüpfte sie aus den Schuhen, nahm sie in die Hand und huschte auf Strümpfen weiter, nicht ohne innerlich zu verfluchen, dass die Wohnungen der untersten zwei Stockwerke mit Anwaltskanzleien und einer Arztpraxis belegt waren und der vierte Stock von einem Fotografen, der ständig auf Reisen war. Was erst wie ein Glücksfall gewirkt hatte - ein Haus, in dem sie, wenn sie wollten, die ganze Nacht laute Musik machen oder Partys feiern konnten, ohne jemanden zu stören -, offenbarte gerade seine Schattenseiten: keine Mitbewohner, die ihr jetzt hätten helfen können. Wie war der Polizeinotruf? Egal. Wenn die Männer sie telefonieren hörten, würden sie schneller bei ihr sein als jede Polizei. Sie brauchte erst mal dringend ein Versteck.
Die Dachbodentür. Weiß lackiertes Eisen. Bitte, all ihr himmlischen Mächte, lasst die offen sein!
Waren die Männer schon bei ihrer Wohnungstür? Flüstern drang herauf, ein verhaltenes Schaben von Metall auf Metall. Versuchten sie das Schloss zu knacken oder war das ein Schlüssel, der ins Schloss rutschte? Hatten sie Maxines Schlüssel? Jetzt wieder Stille, die Männer mussten in der Wohnung sein. Vorsichtig drückte Anaïs die Klinke der Dachbodentür hinunter, die mit einem unwilligen Knacken nachgab. Die Tür schwang auf und Anaïs tauchte ein in den Geruch von Staub, Holz und abgestandener Luft.
Als sie und Maxine in die Wohnung eingezogen waren, hatten sie nur einmal kurz hier heraufgeschaut. Das Kellerabteil reichte ihnen zum Aufbewahren ihrer paar Habseligkeiten. Der Dachboden war früher einmal der Trockenboden gewesen, wo die Leute ihre Wäsche aufgehängt hatten, jetzt standen hier überflüssige Möbel, über die Zeiten vererbt: entweder zu sperrig für die Wohnungen oder ungeliebt, dabei einerseits zu wertvoll, um sie wegzuwerfen, andererseits nicht edel genug, um sie beim Antiquitätenhändler zu verhökern. Wie die Silhouetten unförmiger kleiner Riesen hockten sie zusammengekauert in dem vagen Schein der Straßenbeleuchtung, der über die runde Dachluke an der Stirnseite des Gebäudes hereinfiel.
Anaïs’ Hirn arbeitete auf Hochtouren. Die beiden unten würden sehr schnell feststellen, dass Anaïs nicht in der Wohnung war. Und dann? Würden sie einfach abziehen? Zum zweiten Mal mit leeren Händen? Schwer vorstellbar. Und wenn die Kerle sie suchten, dann würden sie das voraussichtlich gründlich tun. Die hatten Maxine mitgenommen, aus was für Gründen auch immer. Das war Menschenraub, nicht irgendein kleiner Einbruch. Sie musste sich ein verdammt gutes Versteck suchen! Hektisch blickte sie sich um. In einen der Schränke kriechen? Hinter die Kommode? Der Zwischenraum wäre groß genug. Aber dorthin würden sie bestimmt als Erstes blicken. Wohin sonst?
Wie staubig es hier war. Hinterließ sie eigentlich Fußspuren? Bitte, bitte nicht, das würde die Männer genau zu ihrem Versteck führen. Sie wollte das Deckenlicht keinesfalls einschalten, aber ihr Handy hatte eine Taschenlampenfunktion. Anaïs aktivierte sie mit fliegenden Fingern.
Hier lehnte ein alter Besen, nur noch eine filzige, dünne Schicht Borsten auf dem Holzgerippe. Damit ließ sich jede Spur gut verwischen, sie musste ihn nur hinter sich herziehen, dabei ein bisschen über den Boden wedeln. Die Tür des Schrankungetüms klemmte, jedoch nur kurz. Ein alter Anzug hing darin, ein Abendkleid, ansonsten war er leer. Sollte sie da hinein? Anaïs zögerte. Wenn jemand die Tür aufmachte, würde er sie da sitzen sehen, auf dem Präsentierteller, ohne eine Chance zu entkommen. Nein! Das Gleiche galt für die anderen Schränke. Gab es denn nirgends eine Nische, ein besseres Versteck? Die Männer wussten inzwischen, dass die Wohnung leer war. Und dann? Sie würden im Keller nachsehen und auf dem Dachboden. Genauso wie sie, Anaïs, Maxine gesucht hatte. Bei dem Gedanken, dass ihre Verfolger jeden Moment in der Tür stehen konnten, gaben für einen Moment ihre Beine nach. Irgendwas musste es hier doch geben!
Da, hinter dem Regal. Eine kleine Nische zur Kaminmauer hin. Unsinn, da würde man sie auch gleich entdecken, sobald man einen einzigen Blick in diese Richtung warf. Es war hoffnungslos. Kurz lehnte sie sich an die Mauer und stützte die Stirn gegen den Kaminmantel. Die Mauer hatte noch die Heizwärme des Tages gespeichert. Das Eisengitter im gemauerten Kaminmantel war nicht nur Putzklappe, es hatte früher auch Wärme in den Trockenboden geleitet. Die Klappe … Anaïs stutzte. Sie würde hindurchpassen! Nicht ganz leicht, aber es sollte gehen. Schon hatte sie den Eisenhebel aufgestemmt. Er durfte nur nicht zufallen, während sie da drin war. Die Vorstellung, hinter dem Gitter gefangen zu sein, während die Heizung wieder ansprang, ließ sie einen Moment zaudern. Vermutlich würde es schneller zum Tod führen, wenn sie, während sie verdurstete, gleichzeitig bei lebendigem Leib geröstet wurde. Bis man sie suchen und sich jemand hier herauf verirren würde, würden nur noch ihre mumifizierten Finger durch das Gitter ragen. Unwillkürlich musste sie hysterisch kichern.
Читать дальше