Oder war Maxine gar nicht in der Wohnung gewesen? Aber ihre Stiefel standen ja in der Garderobe! War sie vielleicht doch hier irgendwo? Vielleicht hatte sie sich ja vor den Eindringlingen versteckt, im Keller, auf dem Dachboden. Dort hatte Anaïs noch nicht nachgesehen, das würde sie jetzt sofort nachholen.
Sie stellte hastig den Wäschekorb ab, stopfte mechanisch ein herausgerutschtes Handtuch zurück, wandte sich schon ab, stutzte dann. Was war das? So rot unter dem Handtuch? Doch kein … Blut?
Anaïs hob das Handtuch ganz vom Boden, schob den Korb zurück. Ihr Hirn erkannte das Zeichen sofort, zog es aus der verborgenen Kammer ihrer Kindheit und ordnete es ein, während sie noch stand und sich zu glauben weigerte, was sie sah.
Maxine musste einen Lippenstift verwendet haben, leuchtend rot, schmierig, auf der Kreislinie ein Klecks, dann schien der Stift abgebrochen zu sein. Die zwei Zickzacklinien, die den Kreis durchschnitten, waren klar, mit scharfen Ecken. Krokodilsrachen hatten sie die Linien genannt, damals, nach dem Tod der Eltern, als ihre Welt auf einmal so brüchig geworden war. Eng zusammengerückt waren sie zu jener Zeit, Anaïs und ihre Schwester, um sich nicht ganz so schutzlos zu fühlen, und mit einem Mal spürte Anaïs, als geschähe es in diesem Moment, die weiche Wange Maxines an ihrer eigenen, den warmen Atem, der an ihrem Ohr flüsterte: „Wir machen uns ein Zeichen aus. Eines, das sonst keiner kennt. Wenn wir jemals in Gefahr kommen. Und wir schwören uns, dass wir uns dann gegenseitig helfen.“
Sie hatten sich den Krokodilsrachen ausgedacht, denn wo sollte man in größerer Gefahr sein als in so einem Maul, gefangen von spitzen Zähnen? Sorgfältig hatten sie das Zeichen damals auf ein Blatt gemalt und Maxine hatte daruntergeschrieben: Gefahr! Ich brauche absolut deine Hilfe!
Dann hatten sie feierlich geschworen.
Hinter Anaïs’ Augen brannten plötzlich Tränen. Das Zeichen war nie zur Anwendung gekommen, aber es war immer gut und tröstlich gewesen, zu wissen, dass es existierte. Damals.
Anaïs ließ sich auf die Knie fallen und fuhr die verschmierte rote Kontur mit dem Finger nach. Der Kreis, die gezackten Linien, die kindlich formulierten Worte.
Gefahr! Ich brauche absolut deine Hilfe!
Was war mit Maxine geschehen, dass sie das hier auf den Boden geschmiert hatte? Was für eine Angst musste sie angetrieben haben, dass ihr das Zeichen wieder eingefallen war … Und wo war sie jetzt?
Der Keller. Sie musste auch dort noch nachsehen. Ihr Abteil, mit einer hölzernen Gittertür abgetrennt, hinter der ihre Snowboards lehnten, ein paar noch unausgepackte Umzugskartons, ein Ikea-Regal mit irgendwelchen Pokalen, die Maxine gewonnen hatte, anderweitiges Zeugs, sonst nichts.
Der Innenhof? Stand Maxine dort, blickte in den Himmel, bestaunte die Winternacht? Was für ein ausgemachter Schwachsinn! Anaïs lief trotzdem hinaus, schaute hinter die Müllcontainer, zur Teppichstange, in die Ecke, in der alte Gartengeräte lagen. Wieder nichts.
Sie kehrte zurück in die Wohnung, tippte noch einmal Maxines Nummer in ihr Handy. Nach einem Moment des Wartens hörte sie entfernt ein melodisches Klingeln. Es kam aus dem Gang. Langsam ließ Anaïs das Telefon sinken. Maxine hatte ihr Handy gar nicht dabei.
Sie ging zurück in die Küche, hob den umgekippten Stuhl auf und ließ sich darauf fallen. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht, rieb sich die Augen, die Wangen. Was um alles in der Welt sollte sie tun? Wenn sie nur nicht so übernächtigt gewesen wäre, so müde, dass sie gar nicht mehr richtig denken konnte. Wie gelähmt starrte sie auf das Loch in der Scheibe des Küchenschranks. Die Minuten dehnten sich ins Unerträgliche, vom Ticken der Küchenuhr in gleichmäßige Scheiben geschnitten.
Das Schrillen ihres Mobiltelefons ließ sie hochfahren. Du liebe Güte, hatte sie den Klingelton so laut gestellt? Fahrig nestelte sie das Gerät aus ihrer Jeanstasche, fast rutschte es ihr aus den Fingern, sie konnte es gerade noch festhalten, während sie einen Blick auf das Display warf. Eine unterdrückte Nummer.
Sie hörte die Stimme, bevor sie etwas sagen konnte, ein dringliches Flüstern: „Anaïs? Anaïs? Bitte, antworte!“
„Maxine!“
„Ani, du musst mir helfen. Bitte, Ani! Die bringen mich nach Ta…“ Die Verbindung brach ab.
„Maxine“, keuchte Anaïs. Ihr Daumen scrollte automatisch auf Rückruf, blieb dann aber unschlüssig in der Luft hängen. Halt. Maxine hatte sie angerufen, von einem fremden Handy aus, dessen Nummer jemand nicht preisgeben wollte, hatte geflüstert, offenbar heimlich telefoniert, hatte den Anruf spontan weggedrückt. War ihr Telefonat entdeckt worden? Oder hatte sie es geschafft, das Handy blitzschnell verschwinden zu lassen? Wenn Anaïs jetzt anrief, würde es sehr wahrscheinlich im falschen Moment klingeln, vielleicht auch noch in Maxines Hosentasche, in die es nicht gehörte. Und wenn genau das erst zur Entdeckung von Maxines Anruf führte? Verdammt! Die bringen mich nach Ta… Was war Ta …? Und wer waren die ?
Du musst mir helfen.
Verzweifelt knallte sie das Telefon auf den Küchentisch. Nur einen Moment später läutete es erneut, vibrierte dazu mit einem trockenen Brummen auf dem Holz. Anaïs riss es geradezu ans Ohr.
„Maxine! Wo bist du? Was ist passiert?“
In der Leitung blieb es still. „Maxine? Maxine! Bist du da?“ Anaïs war sich sicher, ein Atmen zu hören, ein Atmen in einem ruhigen, dunklen Rhythmus, der dennoch nichts Friedliches hatte. Das Gefühl der Bedrohung wurde mit einem Mal so übermächtig, dass Anaïs die Verbindung panisch wegdrückte und das Handy klappernd auf den Tisch fallen ließ. Das Herz klopfte ihr bis in den Hals.
Nein, dieses zweite Mal, das war nicht Maxine gewesen. Es hatte sich … böse angefühlt. Oder wurde sie jetzt komplett verrückt? Nein, auf ihr Bauchgefühl konnte sie sich verlassen. Und das sagte ihr, dass ihrer Schwester etwas Schlimmes zugestoßen war.
Was. Sollte. Sie. Tun?
Etwas zuckte Anaïs durch den Kopf, war genauso schnell wieder verschwunden. Frustriert schlug sie sich gegen die Stirn. Ein Gedanke, eine Idee war kurz aufgeblitzt und gleich wieder ins Dunkel ihrer Müdigkeit getrudelt. Aufgeblitzt. Ein Licht … Natürlich! Maxines Computer. Der hatte noch geleuchtet. Vielleicht würde sie dort irgendetwas finden, was ihr weiterhelfen konnte.
Anaïs lief ins Zimmer der Schwester. Ja, da stand das Notebook noch. Sie packte es, warf sich damit aufs Bett. Und da war es schon! Der letzte gegoogelte Aufruf: Tarifa. Das konnte kein Zufall sein. Was sagte Wikipedia?
Tarifa in der andalusischen Provinz Cádiz (Spanien) ist die südlichst gelegene Stadt Festlandeuropas. Sie markiert das östliche Ende der Costa de …
Von Tarifa aus konnte man schon Afrika sehen. Ein Surferparadies. Bilder von weißen Stränden, blauem Meer, das auf blauen Himmel traf. Windumtost. Bunte Kites. Volltreffer.
Was war der vorherige Eintrag im Verlauf? Ein Name: Raul Rosas. Anaïs klickte ihn an.
Raul - Maxines neuer Freund hieß Raul. Viel mehr wusste Anaïs nicht von ihm. Er schien aus irgendwelchen Gründen nicht zu wollen, dass Maxine über ihn sprach. Kennengelernt hatte Anaïs ihn auch noch nicht. Seltsamer Typ. Na ja, irgendwas musste er haben, sonst hätte Maxine sich nicht in ihn verliebt. Vielleicht war er auch einfach nur ein bisschen menschenscheu. Hatte Maxine ihn tatsächlich gegoogelt?
Da war er schon: Raul Rosas. Vielmehr: waren sie . Wie konnten so viele Männer den gleichen Namen haben und noch dazu relativ ähnlich aussehen? Alle spanisch oder südamerikanisch und schwarzhaarig. Etliche Einträge auf Facebook, ebenso viele auf Twitter, außerdem ein Video, wo ein Raul Rosas seinen Gegner in einer Art Kampfkäfig niederrang, beide Männer kahlrasiert und mit glänzenden Muskeln. Zumindest von denen war garantiert keiner Maxines Freund.
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