„He, was geht da ab? Anaïs? Bist du das?“ Bugo stand plötzlich vor ihnen, wischte sich den Regen aus den Augen und starrte sie an. „Moment mal, was macht ihr da mit ihr?“
Anaïs stieß einen erstickten Laut aus.
Bugo reagierte sofort. Mit einem wütenden Aufschrei warf er sich auf den Nächststehenden. Der Mann taumelte unter dem Anprall einen Schritt zurück, der Griff um Anaïs’ Arm lockerte sich und die Hand rutschte von ihrem Mund. Im selben Augenblick hatte sie sich auch schon mit einem Ruck befreit, während sie dem anderen Typen mit aller Kraft gegen das Schienbein trat.
„Weg hier!“ Bugo packte ihre Hand und zog sie mit sich. Sie rannten, bis sie den Club erreichten. Als Bugo die Eingangstür aufstieß, wehten ihnen Musik und Stimmen von drinnen entgegen. „Puh … Was wollten die denn von dir?“
Anaïs warf einen raschen Blick über die Schulter: Die Männer waren verschwunden. „Keine Ahnung! Zwei Verrückte, die irgendwas davon gefaselt haben, ich solle mitkommen oder so … Danke, Bugo.“
Bugo schüttelte den Kopf, dann blickte er nachdenklich in Richtung Tür. „Aber ich kenne die beiden. Glaub ich zumindest, so ganz hundertpro könnte ich es zwar nicht sagen, aber …“
„Was?! Wer sind die?“
„Die Gleichen, die heute Nachmittag vor dem Club gestanden haben.“ Er sah Anaïs mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wenn du mich fragst, sieht fast nach …“
„He! Macht ihr mal voran, ihr zwei, oder wollt ihr heute als Türsteher arbeiten?“ Paul klatschte auffordernd in die Hände.
„Die zwei Kerle von heute Nachmittag wollten gerade deiner DJane an die Wäsche, Boss!“
„Wem? Anaïs?“ Paul trat schnaubend hinter dem Tresen hervor. „Das sollen die mal probieren, dann kriegen sie es aber mit mir zu tun. Sind die noch da?“
„Nein.“ Anaïs schüttelte den Kopf.
„Na, umso besser. Und du fährst mir heute mit dem Taxi nach Hause, Mädchen, keine Widerrede. Das geht aufs Haus, damit wir uns verstehen. Ist denn überhaupt alles okay mit dir?“ Besorgt blickte Paul sie an.
„Ja, ja, schon gut. Ist ja nichts weiter passiert.“ Anaïs schlüpfte aus ihrem feuchten Anorak und schüttelte sich.
„He, Boss, kommst du mal?“ Gitta, die schon seit der früheren Schicht kellnerte, winkte quer durch den Raum. „Bin schon da.“ Paul tätschelte Anaïs den Arm, bevor er mit einer entschuldigenden Geste verschwand, während Bugo Anaïs aufmunternd zuzwinkerte und zu den Hinterräumen lostrabte.
Anaïs blieb mit hängenden Armen stehen. Die hatten ihren Namen gekannt. Warum hatte sie das Paul nicht gesagt, oder Bugo? Einen kleinen Ausflug. Beide hatten einen Akzent gehabt. Chica. Also wohl spanisch.
Hätte Bugo heute Abend nicht noch mal weggemusst und wäre deswegen überraschend auf der Straße aufgetaucht, wer weiß, was passiert wäre. Was hatte der eine sagen wollen, als Bugo dazwischengeplatzt war? Dass wir deine … Deine was? Und dass die beiden vermutlich heute Nachmittag schon da gewesen waren … Anaïs spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Nacken kroch.
Könnten Sie bitte noch einen Moment warten, wollte Anaïs sagen, bis ich bei der Haustür bin? Leider kam ihr eine Auftragsmeldung aus dem Taxifunk nach dem ersten Wort dazwischen. Eine krächzende Stimme, die eine Adresse ansagte. Der Fahrer drückte einen Knopf. „Bin schon unterwegs!“ Dann hielt er an. „Alles schon bezahlt, junge Frau“, meldete er über die Schulter zurück.
Anaïs spürte seine Ungeduld, weiterzukommen. Sie murmelte einen Gruß, stieg aus und schlug die Tür zu. Das Auto fuhr sofort los und entfernte sich mit gedämpftem Motorbrummen.
Die Straße lag still vor ihr. Es musste ungefähr Viertel nach drei sein, vielleicht schon halb vier. Sie war eine Stunde früher gegangen heute, Bugo hatte die Turntables übernommen. Im Club war nicht viel los gewesen und Bugo machte das manchmal mehr Spaß als das Kellnern, das wusste sie. Paul hatte auch nichts dagegen gehabt, und so war sie klammheimlich durch den Hinterausgang verschwunden, wo das Taxi schon auf sie gewartet hatte. Keiner hatte es ausgesprochen, aber es hatte wie eine Gedankenblase in der Luft gehangen: Falls die Kerle immer noch in der Nähe sind.
Zuerst hatte sie aufgeatmet, als sie sicher im Taxi saß, doch dann war ihr etwas eingefallen. Siedend heiß. Warum hatte sie nicht vorher daran gedacht? Wenn die ihren Namen kannten, dann wussten sie bestimmt auch ihre Adresse, oder? Hätte sie doch nur Bugo gebeten, sie zu begleiten, war es ihr durch den Kopf geschossen. Dann hatte sie versucht, Maxine anzurufen, war aber nur auf der Mailbox gelandet.
Sie biss sich auf die Lippen und atmete tief durch. Nach der Mischung aus verbrauchter Luft und Schweiß im Club brannte ihr die Nachtluft kalt und klar in der Lunge. Mit schmalen Augen blickte sie zum Haus hinüber - alles schien ruhig. Ein paar Autos waren am Straßenrand geparkt, ein einsames Fenster im nächsten Gebäude erleuchtet, nichts Beunruhigendes.
Zögernd spähte sie noch einmal in alle Richtungen. Was sollte das alles? Warum sollte jemand sich die Mühe machen, sie zu bespitzeln, ihren Namen herauszufinden und sie zu verschleppen? So ein Quatsch! Purer Zufall, sonst nichts. Das Leben war kein Fernsehkrimi.
Trotzdem. Anaïs rannte los, über die Straße und zur Haustür; schnell die Tür auf, ihre Schritte hallten in dem leeren Gang. Jetzt klirrten die Schlüssel im Schloss der Wohnungstür. Himmel, sie zitterte ja wie verrückt. Nichts wie rein! Sie drückte die Wohnungstür hinter sich zu, legte die Sicherheitskette vor und ließ sich aufatmend gegen die Wand der Garderobe sinken. In der Wohnung war alles ruhig. Klar, ihre Schwester schlief. Was sollte sie sonst um diese Uhrzeit tun?
Anaïs begann plötzlich leise zu kichern. Sie war wirklich schon paranoid! Konstruierte sich irgendwelche Geschichten zusammen. Dabei war die ganze Sache letztlich harmlos. Warum die ihren Namen kannten? Wie gesagt: ein dummer Zufall. So was gab es. Sie musste dafür sorgen, dass sie mehr Schlaf bekam. Und damit konnte sie gleich anfangen: geschwind in die Küche, einen Träum-süß-Tee überbrüht und ab ins Bett.
Anaïs schaltete das Küchenlicht ein - und erstarrte.
Der Tisch lag umgestürzt auf der Seite, ein Stuhl daneben, in einer Glasscheibe der Hängeschränke prangte ein gezacktes Loch. Ein Kissen war aufgeplatzt und weiße Federchen zitterten in einem kaum merklichen Lufthauch am Boden.
„Maxine!“ Jetzt schrie sie es mit sich überschlagender Stimme, während sie bereits die Tür zum Schlafzimmer der Schwester aufriss.
Stille antwortete ihr. Maxines Bett war unberührt, das Zimmer dunkel, nur das Licht am Notebook glühte, als hätte Maxine eben noch am Computer gesessen. Ein kleiner Lichtpunkt, sonst nichts.
„Maxine“, flüsterte Anaïs.
Fort. Maxine war fort. Anaïs spürte es so deutlich, als hätte sie bereits in jedes Zimmer geschaut. – Trotzdem stürzte sie los, durchstöberte jeden Winkel der Wohnung. Im Badezimmer roch es nach Maxines Parfüm, zu stark, um angenehm zu sein. Der Flakon war zu Bruch gegangen, kleine Scherben lagen überall am Boden verstreut, ein paar Tiegel und Cremetuben dazwischen, der Wäschekorb war umgestürzt. Anaïs holte die Kehrschaufel aus der Küche, begann die Scherben flüchtig zusammenzufegen. Vielleicht würde es ihr ja beim Denken helfen, wenn sie ein wenig Ordnung machte. Vielleicht half es gegen die Panik, die in ihr brodelte wie Lava, bereit, jeden Moment auszubrechen.
„Denk, Anaïs, denk nach“, flüsterte sie beschwörend. Was war geschehen? Ein Kampf ohne Frage, Spuren davon in der Küche und im Bad. Der Rest der Wohnung lag unberührt. Einbrecher, Diebe? Unwahrscheinlich. Die hätten eher die Schlafzimmer durchsucht. Kein Mensch hortete Wertgegenstände in der Küche. Und Maxine? War sie ihnen in die Quere gekommen? Oder waren sie ihretwegen gekommen? Womöglich war jemand hinter ihr her, so wie diese beiden, die heute sie, Anaïs, abgepasst hatten. Aber warum ?
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