Am Schalter war bereits eine fruchtlose Diskussion im Gang. Der Schalterbeamte gestikulierte unfreundlich, keiner aus der Gruppe sprach wirklich Italienisch. Anaïs überlegte gerade, ob ihre paar Brocken von Nutzen sein konnten, da drängte sich der Junge mit der Gitarre an ihr vorbei zu dem Beamten. Nach einem kurzen Wortwechsel drehte er sich zur Gruppe. „Unser Zug hatte einen Defekt in der Elektrik, darum auch keine Heizung, wem es aufgefallen ist. In circa zwanzig Minuten geht ein anderer Zug von hier nach Verona, auf den werden sie uns verteilen. Dort müssen wir dann alle umsteigen. Falls es Züge gibt, heißt das.“
„Aber was wird denn jetzt mit unseren Platzkarten? Sollen wir uns dann einfach irgendwohin setzen oder was? Ich habe die extra bezahlt!“ – „Das können die doch nicht machen! Einfach so!“ – „Sei froh, wenn wir hier überhaupt wieder wegkommen! Aufregen nützt da auch nichts!“ Die Stimmen schwirrten empört durcheinander.
Was für ein Theater! Als würde man sich mit so einer Fahrkarte das Recht auf ein reibungsloses Stück Leben erwerben: Von hier nach da ohne Probleme und ohne Verzögerungen, denn dafür habe ich bezahlt. Träumt weiter! Sie, Anaïs, würde lieber schauen, ob sie hier irgendwo einen Kaffee bekam. Schräg gegenüber sah sie Teile eines Gebäudekomplexes durch den Nebel schimmern, überdimensional und mit bunten Logos, wohl ein Shoppingzentrum. Die Vorstellung, in dieses schneeumtoste Niemandsland zu fahren, um zu shoppen, erschien ihr gespenstisch. Ob es wirklich Leute gab, die das machten?
Sie drückte sich durch die nächste Tür, über der das Wort Buffet stand, trat sich die Schuhe ab und schüttelte den Schnee von der Kapuze. Es roch leicht nach altem Fett, schalem Wein, feuchten Kleidern und Kaffee - zusammen mit Licht und Wärme direkt heimelig. Hinter einer Glasvitrine lagen dunkle Brote mit Speck und auf einem Glasteller frische Croissants. Der Junge mit der Gitarre stand bei der Kasse und fingerte in einem kleinen Lederbeutel nach Münzen. Anaïs stellte sich hinter ihm an.
Wie mühelos er vorher mit dem Schalterbeamten debattiert hatte. „Du bist wohl Italiener?“ Es rutschte ihr heraus, bevor sie noch überlegen konnte.
„Was?“ Der Junge fuhr herum, fragende grüne Augen, die sich bei ihrem Anblick verdunkelten, als wäre ein Vorhang gefallen. Mit einem Mal sprach Zurückhaltung aus seinem Blick. Und Wachsamkeit? Warum bloß? Er drehte den Kopf zur Seite, als wollte er nicht, dass Anaïs ihn anblickte. Eine Münze klimperte zu Boden, rollte unter die Theke und er bückte sich, sie aufzuheben.
„Warum denkst du das?“ Er schien sich gefangen zu haben, auch wenn sein Blick keine Spur freundlicher war.
„Sorry! Ich wollte dich nicht erschrecken! Ich dachte nur, so wie du mit dem am Schalter geredet hast …“
„Ach so. Nein.“
„Was, nein?“
„Ich bin kein Italiener.“ Er wandte sich ab und nahm seinen Kaffee entgegen.
„Und?“ Der Mann hinter der Theke hob fragend die Augenbrauen, wobei er Anaïs nicht wirklich anblickte, sondern auf ihre zwei Dreads starrte, die ihr seitlich über die Schulter nach vorne fielen.
„Einen Cappuccino, bitte und haben Sie auch irgendwas ohne Speck?“
Der Mann zuckte die Achseln und deutete wortlos auf die Croissants.
„Na ja, okay. Eines bitte.“ Schweigend zählte sie das Geld ab und nahm ihre Bestellung in Empfang. Die Tasse fühlte sich belebend warm an in ihren kalten Händen. Als sie sich umdrehte, war der junge Mann verschwunden.
Bis sie wieder zum Bahnsteig kam, war der Zug bereits eingefahren. Eine Frau in Bahndienstkleidung und dickem Anorak dirigierte sie in den nächsten Großraumwagen. Sie erkannte ein paar Leute aus ihrer vorherigen Gruppe, die es sich dort gemütlich machten. Der Zug war voll, die meisten Plätze, die noch frei waren, schienen reserviert. Anaïs bekam gerade noch einen Platz in der Ecke neben einer Tür. Nicht sehr komfortabel, aber zumindest ungestört. Sie verstaute ihren Rucksack, ließ sich auf ihren Platz fallen und streckte die Füße unter den leeren Sitz gegenüber.
Wärme, Licht, Menschen, verhaltene Gespräche, die Bewegung des Zuges, der schnell Fahrt aufnahm – Anaïs atmete tief durch und schloss die Augen. Sie war in Italien, so weit hatte sie es erst mal geschafft.
Die Hydraulik der Tür zischte und Anaïs hörte die Stimme der jungen Bahnbeamtin, die neben ihr zum Halt kam. Da war wohl noch jemand ohne Platz. Schade, sie hatte sich ganz wohl gefühlt, so alleine in der Ecke. Ein Gepäckstück kratzte auf die Ablage über ihr. Anaïs konnte nur mit Mühe ein Seufzen unterdrücken. Das war’s dann wohl mit ihrer Privacy. Widerstrebend öffnete sie die Augen. Der Junge mit der Gitarre sah nicht glücklicher aus als sie, im Gegenteil: Er wirkte, als hätte er am liebsten die Flucht ergriffen.
„Ist sonst nichts mehr frei?“ Anaïs zog die Beine ein und rückte weiter in die Ecke.
Der Junge zuckte nur die Achseln, ohne zu antworten. Er stellte die Gitarre zwischen sich und Anaïs und warf sich auf den Platz gegenüber. Anaïs verschränkte die Arme und blickte aus dem Fenster, spürte aber, dass die Blicke des jungen Mannes sie immer wieder streiften.
„Was?“, fragte sie ungehalten und sah ihn direkt an.
Er zuckte zusammen. „Was meinst du mit was ?“
„Du hast die Stirn gerunzelt und mich angestarrt, als wolltest du etwas sagen.“
„Ich? Quatsch! Ich hab dich weder angestarrt noch wollte ich etwas zu dir sagen.“
„Dann eben nicht.“ Anaïs schloss die Augen.
Panisch klopfendes Herz. Angst. Und wieder das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Anaïs riss die Augen auf. Der Sitz ihr gegenüber war leer. Wie spät war es wohl? Die Landschaft vor dem Fenster war weiter geworden, was die tief hängende Wolkendecke noch drückender wirken ließ. Lange konnte sie nicht geschlafen haben. So langsam bekam sie das Gefühl, für den Rest ihres Daseins zu kurzen, wachsamen Schlummern verdammt zu sein. Wie ein Tier der Wildnis, immer alarmbereit, immer ein offenes Ohr für mögliche Angreifer. Kein Wunder, dass man die Löwen in den verschiedenen Naturfilmen meistens dösend sah. Das war verdammt anstrengend!
Ein paar Kinder quengelten, fielen über ihren Handys aber bald wieder in stumpfes Schweigen, erschöpfte Ruhe lag über dem Wagen.
Wie lang hatte sie eigentlich mit niemandem mehr geredet? Richtig geredet, nicht nur Belanglosigkeiten über Fahrkarten ausgetauscht? Sehr lange, so kam es ihr vor, und das bei allem, was geschehen war. Keine Sekunde länger hielt sie das aus, dieses Alleinsein. Sie zog ihr Handy heraus und schaltete es an. Zwei versäumte Anrufe von Leo und einer aus dem Blitz. Sie ignorierte sie und drückte stattdessen die Nummer von Clara ein.
„He, Anaïs! Kapierst du eigentlich Chemie? Ich blick da bei gar nichts durch“, meldete sich ihre Freundin.
Anaïs lachte. Da draußen existierten wirklich noch Dinge wie Chemiebücher, Prüfungen, Schulkollegen, Normalität. Eine Welle von Erleichterung durchflutete sie.
„Lernen wir vor der Schule heute zusammen? Sonst schaff ich das nie.“ Clara klang wirklich frustriert.
„Würde ich gerne, aber ich sitze gerade im Zug irgendwo hinter dem Brenner.“
„Du meinst wohl im Brenner? Das Lokal, oder? Wieso Zug?“
„Nein, nicht das Lokal. Deshalb der Zug.“
„Du bist wirklich in Italien? Nicht zu fassen! Was machst du denn da?“
„Ich suche Maxine.“ Anaïs senkte die Stimme. „Clara, sie ist entführt worden.“
„Was? Ich versteh dich nicht. Was ist mit Maxine? Bei dir rumpelt es so!“ Clara sprach zum Ausgleich so laut, dass Anaïs das Handy ein wenig von ihrem Ohr weghalten musste. Unruhig ließ sie die Augen über ihre Mitreisenden gleiten. Hörte hier jemand mit? Wurde aufmerksam?
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