„Hank Aaronson, Paul Ford, Stella Beimer, John Harden“, wiederholte Sam nun das, was Ton eben gesagt hatte. „Alle gerade.“
„Gerade?“ fragte Mia.
„Eine gerade Anzahl von Buchstaben. Hank hat vier, Aaronson hat acht, zusammen sind das zwölf. Gerade Anzahl. Ebenso bei den anderen.“
„Und wir?“
„Wir sind ungerade, Schätzchen“, zischte er. „Pam hat drei, Hall hat vier, zusammen sieben. Das haben wir alle. Wir sind alle ungerade. Und deshalb sehen diese Arschlöcher auf uns herab und behandeln uns so, wie sie das tun. Weil sie glauben, dass sie was Besseres sind. Weil sie gerade sind!“ Sam klopfte Tom auf die Schulter. „Gut gemacht, Tom, du hast das Geheimnis gelöst.“
„Ja“, nickte Mia nachdenklich, „und jetzt?“
„Jetzt“, lächelte Sam, „werden wir diesen Leuten zeigen, dass wir das nicht mit uns machen lassen!“
Man hatte einen gemeinsamen Feind gefunden, und das war ein Schritt in die richtige Richtung. Also die falsche, streng genommen. Und es war schwierig gewesen, da man sich seit Verlassen der Erde von Dingen wie Nationalität und Rasse getrennt hatte. Die Geschlechter waren in Mann und Frau unterteilt, nicht in herrschend und unterdrückt. Hautfarben spielten keine Rolle, weil man sie wie die Namen wild miteinander gemischt hatte. Auf die Idee, sich nach Provinzen abzusondern, von „blöden Rheinländern“ oder „sturen Themserianern“ zu sprechen, war man zum Glück nie gekommen. Die Menschheit hatte es geschafft, „gleich“ zu werden. Bis zu jenem schicksalshaften Tag auf einem auf seiner Anonymität beharrenden Planeten, an dem man neue Wege fand, alte Idiotien durchzusetzen. Was man für so etwas zuförderst benötigte, war eine Sitzung. Also berief man eine ein.
Sam Peck begann zu wettern und man lauschte ihm, zunächst etwas amüsiert, dann eher schockiert. Nicht unbedingt darüber, dass er da gerade einen alten und sehr unschönen Weg betrat, sondern, dass er ja irgendwo recht hatte. Recht haben musste, denn sonst würde er so was ja wohl nicht sagen. Und mit etwas Mühe, bei einigen mit großer Anstrengung, konnte tatsächlich jeder aus seinem Bekanntenkreis einen oder eine mit geradem Namen ausmachen, der oder die irgendwie in die angesprochene Kategorie fiel, wenn auch nur ganz schwach. Damit war alles klar, Toms Rechung war aufgegangen, im wahrsten Sinne des Wortes: Sie, die Ungeraden, wurden von den Geraden schikaniert und unterdrückt. „Die hielten sich für was Besseres“ wäre der Slogan gewesen, den man auf eine Fahne gedruckt hätte, wäre diese Tradition nicht zum Glück ausgestorben geblieben. Es wurde zur Unterzeile jeder Mail, die die Ungeraden nun an ihre Gleichgesinnten und Leidensgenossen verschickten. Was in einer kleinen Kneipe begonnen hatte, zog nun seine Kreise um den gesamten Planeten. Zunächst unbemerkt von den Geraden, denn man wollte denen keine Möglichkeit geben, ihre Pläne zu vereiteln. Aber Pläne waren eine Sache. Zum Beispiel die, dass man noch keine hatte. Doch das war weit weniger schlimm als etwas anderes, das Sam Peck schnell aufgefallen war und das dringend geklärt und geändert werden musste. Es war bei ihrer dritten Sitzung gewesen – Tom hatte vorgeschlagen, alle geraden Sitzungen ausfallen zu lassen und sich nur zur ersten, dritten, fünften und so weiter zu treffen, was zwar total konsequent gewesen wäre, sie aber auch eine Menge Zeit gekostet hätte, wenn man ehrlich war. Also kippte man den Plan und traf sich zu jedem vereinbarten Zeitpunkt, aber nur an ungeraden Tagen und zu ungeraden Uhrzeiten. Dort war es gewesen, als Sam etwas bewusst wurde. Etwas Eminentes für ihre Ziele. Er ereiferte sich gerade: „Und wer hat nicht schon erlebt, dass die uns wie Dreck behandeln? Dass die uns die Freundin ausspannen? Oder den Arbeitsplatz wegnehmen? Dass die das tun, was sie uns verbieten?“
„Wer sind ‚die’?“ hatte ein Zwischenrufer, der offensichtlich zu spät gekommen war, weil er zu Zahlendrehern neigte und deshalb seinen Beruf als Mathematiker hatte aufgeben müssen, gefragt.
„Die Un-Ungeraden!“ rief Sam.
„Du meinst die Geraden!“ korrigierte der Zahlendreher.
Da war es Sam bewusst geworden. Der Schönheitsfehler, den er die ganze Zeit unter der Oberfläche gefühlt, den er aber nie hatte ausfindig machen können.
„Ha!“ schrie er. „Ist das so? Nun, was denkst du, wenn du ‚die Geraden’ hörst?“
„Nun…“
„Aufrichtigkeit? Geradlinigkeit? Vertrauenswürdigkeit?“
„Äh… ja?“
„Ganz genau, und das ist es, was sie uns glauben machen wollen. Deshalb sind sie ja auch die Geraden, dass man genau das von ihnen denkt. Aber sind sie so? In der Wirklichkeit? Ist einer von denen so?“
Ein unsicheres Gemurmel ging durch die Kneipe. Das konnte aber auch damit zu tun haben, dass der Kellner gerade hereingekommen war, um Bestellungen aufzunehmen. Sam musste sich keine Sorgen machen, er war einer von ihnen.
„Also wenn ihr bei ‚den Geraden’ an etwas Gutes denkt, dann ist das ein Begriff, den wir tunlichst vermeiden sollten, meine Freunde“, sprach Sam zu seinem Auditorium, „denn dann wird niemand das für sie empfinden, was wir für sie empfinden, dann wird sie jeder als die Guten sehen, obwohl wir alle wissen, dass dem nicht so ist. Und bei uns werden sie sagen: Das sind die Ungeraden, natürlich sind die so, die sind ja ungerade. Das steht für falsch, meine Freunde, und das ist es, was wir ändern müssen. Wir müssen den anderen, aber besonders unseren Brüdern und Schwestern in der Gesamtsumme, klar machen, dass wir, die Ungeraden, nicht die Unreinen sind, sondern die Guten, die, denen man vertrauen kann. Und deshalb müssen wir den Begriff ‚die Geraden’ vernichten und durch Missachtung, durch Nichtverwendung strafen. Von jetzt an soll nicht mehr von den ‚Geraden’ die Rede sein, sondern von den Un-Ungeraden. Ungerade ist das, was es erstrebenswert ist, zu sein, Un-Ungerade ist es nicht. Zum ersten Mal in der Geschichte, meine Freunde, ist eine doppelte Verneinung in der Tat eine doppelte Verneinung. Machen wir ihr alle Ehre, hier und heute.“
„Noch ein Bier?“ fragte der Ober.
„Ja“, nickte Sam, „und noch ein Bier!“
Schnell verbreitete es sich über den Planeten. Zunächst herrschte Verwirrung, Unglaube. Doch auch hier erwies es sich als erfolgreich, konsequent auf die Leute einzureden. Sam Peck tat dies inzwischen auf diversen Plattformen, virtuell wie naturell, online wie offline, wo er den Menschen erklärte, wer sie waren – und wer ihr „Feind“ war.
„Ungerade aller Städte vereinigt euch“ wurde kurz in Erwägung gezogen, aber schnell wieder verworfen. Es waren seine Reden, die die Leute überzeugten, die ihnen ihre Zweifel nahmen – und auch hier erwies sich, dass man, mit ein bisschen Anstrengung und gutem Willen, Menschen mit gerader oder vielmehr un-ungerader Buchstabenzahl genau die Eigenschaft zuordnen konnte, die es brauchte, um sie als schlechte Menschen abzustempeln. Das war der „Beweis“, der Beweis dafür, dass es richtig war, was Peck sagte, dass die anderen, die Un-Ungeraden die Bösen waren, die sie seit vielen Jahren unterdrückt und ausgenutzt hatten. Und wenn man mal genauer darüber nachdachte, besonders am Stammtisch nach dem siebten Bier, dann war da doch auch wirklich etwas dran.
Peck sprach erfolgreich und die Zahl seiner Anhänger wurde größer und größer. Es dauerte nur wenige Monate und die Bevölkerung des kleinen Planeten hatte sich in Ungerade und Un-Ungerade aufgeteilt.
„Aber wir sind doch alle gleich“, hatte Stuart Jones verzweifelt gesagt. „Es wäre nur noch absurder, wenn wir alle Klone wären!“
„Wie heißt dein Bruder, Stuart?“
„Joe“, gestand Stuart leise.
„Siehst du“, zischte Sam, „er ist keiner von uns!“
Joe Jones war ein Un-Ungerader.
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