Das Essen kam und schon der erste Bissen zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Wer auch immer dieses Volk war und wo auch immer es lebte, es wusste, wie man den Gaumen glücklich machte. Der Geschmack war einfach unvergleichlich. Jede Sekunde, die sich der Bissen in ihrem Mund befand, war ein Genuss. Befriedigt sah sie zu ihrem Mann – doch der kaute nur desinteressiert vor sich hin. Das Lächeln in ihrem Gesicht erstarb… doch dann tat sich etwas in Cems Augen. Sie wurden auf einmal… aufmerksamer. Wibke wollte ihn ansprechen, doch er deutete ihr an, zu schweigen. Er schien… zu lauschen. Einer Konversation. Am Nachbartisch.
„Ich weiß einfach nicht weiter“, sagte die Frau mit belegter Stimme.
„Da gibt es nichts, was man tun kann“, meinte der Mann traurig.
„Aber… es ist Unrecht!“
„Es ist das Recht des Stärkeren!“
„Die können das nicht tun. Die dürfen das nicht tun!“
„Die werden es tun. Und sie haben es schon getan.“
„Mit den Berlingers?!“
„Ja.“
Die Frau schluckte.
„Du meinst, sie werden mit uns das gleiche machen?“
„Wenn sie niemand aufhält.“
„Die Berlingers sind erfroren!“
„Sie hätten sich etwas neues suchen können.“
„Nein, das konnten sie nicht. Nachdem die Bank ihnen ihr Land, ihr Land weggenommen hat, hat sie dafür gesorgt, dass sie geächtet wurden. Weil sie ihr Land nicht freiwillig aufgeben wollten, weil sie um ihr Land gekämpft haben. Die Bank hat ihnen einen Denkzettel verpasst. Und jetzt sind sie beide tot.“
„Sie waren alt.“
„Es ist Unrecht! Die Bank hat kein Recht dazu.“
„Die Bank hat die Macht.“
„Hier? Auf unserem Planeten?“
„Auf jedem Planeten, auf dem sie das will“, seufzte der Mann. „Die Bank setzt sich durch. Und wenn es sein muss mit Gewalt.“
„Und unser Land…“
„Sie wird es sich nehmen.“
„Und unsere Kinder…“
„Ich weiß es nicht.“
„Gibt es… gibt es nichts, was wir dagegen tun können?“
„Nein“, sagte der Mann leise. „Wir haben getan, was wir tun konnten, aber es war umsonst. Unser Leben ist verschwendet. Ich weiß nicht, was wir tun sollen.“
Als Wibke und Cem später das Restaurant verließen, stellte sie eine Veränderung bei ihm fest. Er war aufmerksamer. Wacher. Fast ein wenig aufgeregt. Zum ersten Mal seit langem hatte sie das Gefühl, dass etwas in ihm vorging. Und zum ersten Mal seit langem sah sie wieder ein Lächeln in seinem Gesicht.
Cems Gemütszustand wurde mit jedem Tag besser. Offenbar hatte die Erkenntnis, dass er nicht der einzige in der Galaxis war, dem es schlecht ging, einen Knoten gelöst, der seinen Geist zusammengeschnürt hatte. Er war nicht allein, anderen ging es auch so, also gab es keinen Grund, sich weiter in diesen Zustand hineinfallen zu lassen, das schien seine Erkenntnis aus diesem Abend im Restaurant gewesen zu sein und Wibke freute sich, dass der Tag doch noch zu etwas geführt hatte. Cem lächelte mehr und mehr und schon bald hatte er seinen Willen zum Leben wiedergefunden. Er brachte sie sogar zum Raumhafen, als sie wieder zu einem anderen Planeten der Provinz musste, lachte, und küsste sie zum Abschied auf die Wange. Und als sie zurückkehrte schien er ein völlig neuer Mensch zu sein, oder vielmehr ganz der alte, der, der er gewesen war, als sie ihn kennengelernt hatte. Er war fröhlich, guter Dinge und schien wieder Ziele im Leben zu haben. Die Deprimiertheit der letzten Jahre schien weggewischt, er wirkte so, als könne ihm nichts mehr etwas anhaben.
Das war der Zeitpunkt, zu dem sie genau das auf die Probe stellen musste. Denn obwohl er wieder besser gelaunt war, die Liebe zu Cem hatte Wibke seit einiger Zeit verlassen. Und sie war auch mit seiner Wandlung nicht zurückgekehrt. Schon seit langem hatte sie sich von ihm trennen wollen, aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht, nicht in seinem Zustand. Aber jetzt hatte sich alles geändert. Er war wieder ganz der alte, mit frischem Geist und dem Drang, etwas zu unternehmen.
Sie tastete sich vorsichtig an ihr Ziel heran. Sie wollte nicht mit einer Konfrontation all das zerstören, was sie erreicht hatte, sie wollte ihn nicht wieder in seinen alten Zustand zurückversetzen. Sie ging es vorsichtig an… doch er lächelte nur und nickte.
„Es tut mir leid“, sagte er.
„Dir tut es leid?“ fragte sie ungläubig.
„Ja“, lächelte Cem, „dass ich dir das all die Jahre lang angetan habe. Es tut mir wirklich leid, dass du mich aushalten musstest… und ich danke dir dafür, dass du mich ausgehalten hast. Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein Leben bekommst, so, wie du es dir immer vorgestellt hast. Ich gebe dich frei, leb dein Leben, genieße es, denn dafür ist es da.“
Wenige Tage später befand sie sich auf dem Weg nach Venedig, einem anderen Planeten in der Rio de la Plata Provinz, wo sie mit einem Mann zusammenzog, einem anderen Arzt, den sie schon bei mehreren ihrer Reisen durch die Provinz getroffen hatte. Das Leben, so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte, konnte beginnen.
Es gab einen Grund, warum Cem plötzlich so gut gelaunt war. Wobei der Begriff „plötzlich“ nicht ganz angemessen war. Es hatte schon ein bisschen gedauert. Ausgelöst wurde alles durch das Gespräch am Nachbartisch, aber ein wenig anders, als seine Frau es angenommen hatte. Cem hatte zwar gemerkt, dass es auch andere Menschen gab, die mit dem Leben ähnliche Probleme zu haben schienen wie er, aber was für ihn noch viel wichtiger war, war: Diese Menschen brauchten Hilfe!
Und wie es schien, schien ihnen niemand zu helfen. Gegen die mächtigen Banken. Aber hinter Banken standen auch immer Menschen. Und an Menschen kam man heran. Das waren seine ersten Gedankengänge, während Wibke mit Erstaunen und Freude seinen Gesichtsausdruck beobachtete, der mehr und mehr seinen alten Geist auszustrahlen schien. Es arbeitete hinter seiner Stirn, er war nicht mehr der Unbeteiligte, er war jemand, der… der was? Etwas verändern konnte? Der Menschen helfen konnte? Aber wie?
Am nächsten Tag stellte er Nachforschungen an. Über das Paar, das erfroren war. Und tatsächlich, auf ihrem schönen, abgelegenen Planeten hatte sich eine Bank niedergelassen und hatte begonnen, die Leute von ihrem Eigentum, auf dem sie lange und hart gearbeitet hatten, zu vertreiben. Mit irgendwelchen Klauseln, gegen die sich keiner wehren konnte, weil es hier keine Anwälte gab. Das schien, so stellte sich heraus, ein beliebter Weg von ein paar Banken zu sein. Besiedelte Planeten anzugehen, die ohne Anwälte auskamen und auf diese Weise hart arbeitende Leute um ihr Eigentum zu bringen. Und wenn sie sich nett anstellten, durften sie vielleicht sogar noch auf ihrem ehemaligen Eigentum für die Bank arbeiten. Es war eine neue Art von Invasion, aber eine, der scheinbar legal war.
Cem lächelte. Er hatte wieder eine Aufgabe.
Wibke sah sein Lächeln. Er hatte seine Selbstaufgabe aufgegeben. Sie strahlte ihn an – aber er war zu sehr in Gedanken, um es wahrzunehmen. Denn seit er wusste, was er tun musste, musste er herausfinden, was er tun musste. Oder vielmehr tun konnte. Um auf Anwalt umzuschulen und die Banken zu bekämpfen hatte er nicht die Zeit. Es ging um Menschenleben, die auf dem Spiel standen, hier und jetzt. Er musste sofort handeln, wenn er etwas erreichen wollte. Rechtliche Schritte schlossen sich also aus. Aber das war ohnehin nicht sein Gebiet, sein Gebiet war die Medizin. Und wie er sich schon einmal klargemacht hatte, hinter Banken steckten Menschen und die waren sein erster Ansatzpunkt.
Die Vertretung der „Bank des Bürgers“, wie sie sich nannte, war nicht groß. Es gab ein paar Sekretärinnen und einen Mann, der das alles leitete. Bisher kamen die meisten Welten des Imperiums ohne Geld und daher auch ohne Banken aus. Auf Heidelberg war das bis vor kurzem auch so gewesen, bis die „Bank des Bürgers“ eine Filiale eröffnet hatte und nun ihre gierigen Finger nach dem Eigentum anderer ausstreckte. Der Bankmanager war bemüht, mit allen Bauern der Region Verträge abzuschließen, Darlehen, die niemand brauchte mit Zinsen, die niemand zurückzahlen konnte, was zwangsläufig dazu führen würde, dass das Land in das Eigentum der Bank überging. Wie sich bei näherer Betrachtung herausstellte, verfügte die Bank noch über ein bisschen mehr Personal. Offiziell wurde es als „Wachpersonal“ geführt, in Wirklichkeit waren es aber Schläger, die die Bauern dazu „überreden“ sollten, Verträge zu unterzeichnen. Cem war schnell zu der Überzeugung gelangt, dass das nicht unbedingt die legitimsten Wege waren, die die Bank ging – und das befreite ihn in seinen Augen davon, ebenfalls legitim zu handeln.
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