„ Opa Albertos, wie hieß die Tochter des Grafen?“, fragte Isabel scheinheilig.
„ Ich glaube, sie hieß Isabel, so wie du“, antwortete er.
„ War sie hübsch?“
„ Natürlich. Genau so hübsch wie du.“
„ Erzähl weiter“, bettelte Isabel.
„ Als die Sonne aufging hatte der Graf gerade mal eine Handvoll Münzen gesammelt. Das reichte dem Piraten nicht. Er zwang Isabel mit auf sein Schiff zu gehen und segelte davon. Aber der Graf hatte schon in der Nacht heimlich Boten an die befreundeten Grafen der Nachbarinseln geschickt und um Hilfe gebeten. Und mit vollen Segeln verfolgten sie gemeinsam die fliehenden Piraten. Sie kreisten sie ein und der Sohn des Grafen der Nachbarinsel befreite Isabel aus ihrer Gefangenschaft. Dann versenkten sie das Piratenschiff mit Mann und Maus. Nur den Anführer ließen sie am Leben. Sie nahmen ihn mit nach Lanzarote und brachten ihn auf die Burg Castillo Santa Barbara. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und gefesselt in den Gefängnisturm geworfen. Isabel aber heiratete ihren Retter und sie lebten viele viele Jahre zusammen und bekamen viele Kinder.“
„ Danke, Opa Alberto“, sagte Isabel. Dann lief sie mit Diego zu ihrem Versteck. Es war eine kleine Höhle unten am schwarzen Strand. Sie war gerade groß genug, dass die zwei Kinder nebeneinander darin sitzen konnten. Aber sie war schwer zu erreichen, denn sie lag hinter einem Felsvorsprung, der so weit ins Meer hinausragte, dass die Wellen den Zugang versperrten. Man musste warten, bis die großen Wellen eine Pause machten. Dann musste man innerhalb weniger Sekunden um die Felsen herumlaufen um den Eingang der Höhle zu erreichen.
Als sie in ihrem Versteck saßen fragte Diego: „Glaubst du eigentlich alles, was mein Opa erzählt?“
„ Natürlich!“, antwortete Isabel sofort.
„ Aber meine Mutter hat gesagt, dass er manchmal ein paar Sachen durcheinanderbringt. Manchmal vergisst er auch etwas und manchmal dichtet er etwas dazu.“
„ Ist mir egal“, sagte Isabel, „ich finde seinen Geschichten jedenfalls sooo schön.“
Kommissar Winner ging den Weg hinab, den er heraufgekommen war. Er fand seine eigene Spur an den sandigen Stellen und auch die des Unbekannten, aber keine führte vor seiner eigenen hinunter. Wo war der Andere geblieben? Winner beruhigte sich damit, dass der Fremde auch einen anderen Weg bergab genommen haben konnte und dass das Ganze wahrscheinlich gar nichts mit ihm zu tun hatte.
Das Fahrrad stand noch an der gleichen Stelle, an der Winner es abgestellt hatte. Er setzte seine Fahrt auf der Straße fort, denn eigentlich wollte er heute ja ans Meer. Er erreichte schon sehr bald die FKK-Anlage Charco del Palo. Es war so etwas wie ein kleines Dorf. Es gab mehrere Privathäuser und ein paar zweistöckige Appartements, die zu mieten waren, wie Winner aus den Hinweis- schildern ersehen konnte.
Er folgte dem ausgeschildeten Radweg und erreichte das Restaurant Romantika. Es stand auf der höchsten Erhebung am Strand oberhalb des Atlantik. Winner genoss zunächst den Ausblick. Es war grandios. Zur Rechten und zur Linken zog sich die felsige Küste weit entlang und am Horizont konnte man im Dunst die afrikanische Küste erahnen.
Auf der Terrasse des Restaurants standen ein paar Tische und Stühle, die von Sonnenschirmen beschattet wurden. Es mochte fast Mittag sein. Die Sonne stand hoch und strahlte vom wolkenlosen Himmel herab.
Winner setzte sich und bestellte beim Kellner einen Eisbecher und einen Cappuccino. Während er beides genoss betrachtete er das Treiben der Nackten in der Senke unterhalb des Restaurants. Auf einem provisorischen Sandplatz spielten ein paar Jugendliche Volleyball, am Hang neben der Treppe wurde von der älteren Generation Boccia gespielt. Weiter unten waren neben einem betonierten Teich Natursteinterrassen angelegt, auf denen sich einige Nackte sonnten. Der Atlantik rauschte und jedes Mal, wenn eine größere Welle auf die Sperrmauer traf sprudelte Meerwasser durch die Öffnungen in den Teich.
Winner empfand nichts Anstößiges an dem Treiben der Nackten. Er selbst hatte zwar im Moment nicht unbedingt das Bedürfnis an Sonne auf seiner nackten Haut, hatte aber auch nicht den Eindruck, dass es dort unten irgendwie erotisch oder gar sexuell anstößig zuging. Im Gegenteil: Das Ganze machte den Eindruck, als ob alle Beteiligten glücklich waren und ihren Urlaub genossen.
An und für sich war Nacktbaden in Spanien und auf allen spanischen Inseln verboten. Es gab nur wenige Ausnahmen, wo es erlaubt war. Und dies hier schien so eine Ausnahme zu sein.
Die Spanier mieden die Sonne. Sie konnten gar nicht verstehen, dass sich die Touristen freiwillig – mehr oder weniger bekleidet – in die Sonne legten und damit einen Sonnenbrand riskierten. Sie selbst zogen sich in der Mittagszeit für drei bis vier Stunden in ihre Häuser oder die schattigen Innenhöfe zurück und machten „Siesta“. Und sie badeten auch nicht im Meer. Das Meer war für sie Freund und Feind zugleich. Sie lebten hauptsächlich von dem, was ihnen das Meer gab, fürchteten es aber zugleich, denn mancher Mann war vom Fischfang nicht wieder zurückgekehrt.
Winner betrat das Restaurant, um die Toilette aufzusuchen. Der Gastraum bot Platz für mindestens 30 bis 40 Gäste. Die dem Meer zugewandte Seite des Raumes bestand fast nur aus Glas. Winner setzte sich einen Moment, um den herrlichen Ausblick zu genießen. Dabei fiel sein Blick auf ein Bild an der gegenüberliegenden Wand. Man sah den Kopf einer Frau mit einem roten Hut, wobei der Hut das Bild dominierte. Vom Gesicht sah man im Grunde nur den Mund: Zwei schmale rote Lippen. Die Augen sah man nicht. Sie waren durch die Hutkrempe verdeckt. Die Frau trug offensichtlich kurzes dunkles Haar, das vom Hut weitgehend verdeckt wurde. Ansonsten fiel ein goldener Ohrclip auf, den die Frau im rechten Ohr trug.
Winner trat näher an das Bild heran und stellte fest, dass es sich lediglich um eine Reproduktion handelte. Natürlich, dachte er, wer würde auch ein Original in den Speisesaal eines Restaurants hängen. Aber warum hatte der Maler das Bild so gemalt? Warum sah man die Augen nicht? Sollte man die Frau nicht erkennen oder war der Maler mit dem Portrait nicht fertig geworden, aus welchen Gründen auch immer?
Währen Winner sich noch Gedanken über die Beweggründe des Malers machte, trat der Kellner neben ihn. Als Winner es bemerkte sagte er, ohne den Blick von dem Bild zu wenden: „Sehr schön.“
Der Kellner nickte und sagte: „Si, Señor, esta bien.“ Dann blickte er sich nach rechts und nach links um, als wollte er sich vergewissern, dass ihm niemand zuhörte und sagte dann auf Deutsch: „Aber verschwunden.“
Winner sah den Kellner überrascht an: „Verschwunden?“ fragte er und runzelte die Stirn.
„Si, Señor, verschwunden“, wiederholte der Kellner.
Aber noch ehe Winner etwas näher nachfragen konnte, war das Gespräch urplötzlich zu Ende. Als der Koch den Kopf durch die Luke steckte, durch die normalerweise die Speisen aus der Küche in den Speisesaal gereicht wurden, nahm der Kellner sofort die für seinen Beruf übliche Diensthaltung an und fragte: „Wollen Sie etwas essen?“
Winner schüttelte den Kopf und hätte sich stattdessen liebend gerne noch ein bisschen mit dem Kellner unterhalten, aber der war urplötzlich verschwunden und tauchte auch nicht wieder auf, so lange Winner sich in dem Raum aufhielt. Also warf er noch einen langen, fragenden und verwunderten Blick auf das Bild und verließ das Restaurant. Er sah auch keine Chance, den Kellner heute noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Er bestieg sein Rad und fuhr durch die Dünen auf einem Schotterweg nach Mala zurück. Aus der Ferne sah er noch einmal die Burgruine. Und schon begann er wieder darüber nachzudenken, welchen Zweck sie einmal erfüllt haben mochte.
Читать дальше