In den USA sind alle Longshoremen (Hafenarbeiter) streng gewerkschaftlich, also in der UNION, organisiert. Sobald ein Schiff im Hafen fest gemacht hat, darf kein Crewmitglied an Bord auch nur ein Geienende oder einen Schäkel an Deck anfassen. Jedes Crewmitglied wäre in so einem Fall sofort an den UNION-Vertrauensmann an Bord verpfiffen worden. Das löste im schlimmsten Fall ein Bestreiken des Schiffes aus, und der Kapitän hätte eine hohe Geldbuße in die UNION-Kasse entrichten müssen, wenn dieser Fall eingetreten wäre. Diese erzwungene Arbeitsmoral musste erst einmal in die Köpfe deutscher Kapitäne und Seeleute eindringen, die das erste Mal in die USA fuhren. Andererseits durfte kein „longshoreman“ an Bord kommen, bevor nicht ordnungsgemäß unter dem Fallreep ein Sicherheitsnetz befestigt wurde. Ich weiß nicht mehr, was die amerikanischen „longshoremen“ sich dabei dachten, als sie die Luken geöffnet und die ersten VW-Käfer an Land gelöscht hatten. Vielleicht betrachteten sie den Käfer als „german poor people car“, damals 1959. Wir dagegen staunten nicht schlecht, als wir nach Feierabend die Hafenarbeiter in ihren riesigen Schlitten der Marke Buick, Cadelac und Ford nach Hause fahren sahen. Ich hatte vorher noch nie so ausgewachsene verchromte Straßenkreuzer gesehen. Allein, was diese Fahrzeuge an Galones von Benzin verbrauchten, war für uns unvorstellbar. Aber darauf brauchten die US-Amerikaner bei ihren billigen Spritpreisen in den Staaten 1959 noch nicht zu achten. Und dann kam der Moment, wo die UNION-Anordnung „Don’t touch any shipsgear“ doch außer Kraft gesetzt werden musste: Zum Beispiel, als die einzelnen Hängedecks, zuerst aus den Lukenschächten der Zwischendecks, später aus den Unterräumen, herausgenommen werden mussten. Denn hier musste die „UNION“, beziehungsweise ihr „Wachpersonal“ an Bord passen. Keiner von den Amis kannte sich mit der Operationstaktik so gut aus wie unserer Bootsmann und seine Jan Maaten. Und so durften unsere Leute, nach langem Hinundhertelefonieren mit den Bossen an Land die Hängedecks selbst herausnehmen und an Deck stapeln und sichern. Diese „Overtimes“ wurden unseren Leuten selbstverständlich von der UNION in „Dollars“ cash auf die Hand gezahlt. Erst, als wir damit fertig waren und der Bootsmann den „unionman“ zu einer Flasche „german stuff“ (deutsches Bier) eingeladen hatte, tauten die Vorurteile uns gegenüber auf, und der Bootsmann wurde sogar nach Feierabend zu einer Fahrt nach Long Beach eingeladen. Seine Deckscrew musste an Bord bleiben. Das heißt, sie konnten an Land gehen, aber keiner kannte sich im Hafengebiet aus.
Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Nach Feierabend wurden die Terminals öfters von der Harbour Police kontrolliert. Als wieder einmal ein schwarzes Fahrzeug der Harbour Cops vor unserer Gangway hielt, nahm ich mir den Mut und fragte sie nach dem Liegeplatz unseres Schiffes, weiterhin, von wo man im Bereich des Lagerhauses ein Taxi rufen könnte, da wir auch mal einen Abstecher nach Long Beach unternehmen wollten. Long Beach war bekannt für seine Restaurants und Bars mit „life music“. Und das wollten wir ja auch mal kennen lernen. Die Polizisten waren sehr freundlich und natürlich neugierig auf das deutsche Schiff. Und wir waren neugierig auf das Landleben in Kalifornien. Deshalb lud ich die Cops zu einer Spontanvisite an Bord ein, die diese akzeptierten und zu mir in die Kabine kamen. Sie ließen sich sogar zu einen Glas Bier überreden und zu einer Schiffsführung bewegen. Wohl gemerkt, man sollte nie vergessen: die Polizei, dein Freund und Helfer.
Beinahe vergessen: Als wir von den Behörden einklariert wurden, bekam jedes Besatzungsmitglied einen „shorepass“, auf dem natürlich der Name des Schiffes, der Name der uns betreuenden Schiffsagentur, der Name des Besatzungs-mitglieds, das Alter und die Berufsbezeichnung des Inhabers und der Berth eingetragen war, sowie eine Telefonnummer der Harbour Police, falls man in Schwierigkeiten geraten sollte. Unter den ersten, die sich aus Neugierde an Land wagten, war auch ich. Jedenfalls fanden wir irgendwo eine Telefonzelle am Terminal, von dort aus riefen wir ein Taxi. Nach einer Ewigkeit tauchte ein dicker Buick mit gewaltigen Heckflossen vor der Gangway auf, fragte nach uns, und freudestrahlend setzten wir uns zu viert in sein Schlachtschiff, und der schwarze Chauffeur kutschierte uns nach „downtown“ von Long Beach. Das erste, was uns auffiel, war, dass über ganz Long Beach und wahrscheinlich auch über ganz Los Angeles eine riesige Abgas-Dunstwolke schwebte. Den Begriff „Smoke“ kannten wir damals noch nicht. Die ganze Gegend roch nach Autoabgasen. Des Weiteren stellten wir fest, dass das ganze Gebiet bis an den Rand der Stadt fast Ähnlichkeit mit einer Wüste hatte. Sand, Sand, Sand. Und überall standen übergroße nickende Ölpumpen, die das Rohöl, also cruedoil, aus der Tiefe in ein Leitungssystem pumpten, welches zu einer großen Ölraffinerie weiter geleitet wurde. Weiterhin sah ich das erste Mal in meinen Leben diese trostlosen Motels, Einkaufsmärkte und riesigen Autohäuser, die direkt neben der sechsspurigen Autostraße auf dem Wege nach LA gebaut waren, weiterhin diese grelle, aufdringliche Neonreklame. Eine reihte sich an die andere. Das gab es noch nicht einmal in Bremerhaven, und Bremerhaven war durch das US-Militär fest in die amerikanischen Einflusssphäre eingebunden. Irgendwann verließen wir das riesige Gebiet des Hafens und erreichten eine bessere Geschäftsgegend. Ein Hotel reihte sich an das andere, unterbrochen nur von großen, einladenden Restaurants und Bars mit „live music“. Der Taxidriver empfahl uns ein bestimmtes mit mexikanischer Musik. Wir zahlten, bedankten uns und ließen uns überraschen. Ich muss vorwegschicken, ein überwiegender Teil der Bewohner von Los Angeles sind Mexikaner, und die Bands, die hier für die Gäste aufspielten, waren absolut bühnenreif. Soviel musikalisches Feuer hatte ich vorher noch nie erlebt. Natürlich musste man, wenn man einen Tisch eingenommen hatte, auch etwas verzehren, natürlich etwas Mexikanisches - mit scharfem Chili. Das waren wir Bewohner der Sauerkrautheimat überhaupt nicht gewohnt. Welcher Schiffskoch peppte seine Gerichte an Bord mit Chili auf? Der hätte seine Kochkunstprodukte allein aufessen müssen. Uns blieb zwar beim Essen fast die Luft weg, doch mit einem kalten Bier kann man auch so ein Feuer vorübergehend löschen. Auf jeden Fall war dieses Musikbar-Restaurant keine Enttäuschung, immerhin blieben wir fast bis Mitternacht. Dabei hatten wir stets unsere Penunsen im Auge, damit wir nach Ausklang des ersten Landgangs heil wieder unser Schiff erreichen konnten. Nach dem mexikanischen Abstecher besuchten wir noch eine andere Bar, die nur von weißen Amerikanern besucht wurde. Wir fanden Platz am Tresen, hinter dem eine Art Bühne gebaut war und auf der ein Klavierspieler die Gäste mit seinen Darbietungen unterhielt. Der Klavierspieler war ein junger übermäßig korpulenter Schwarzer, der wirklich guten Soul als Alleinunterhalter darbot. Sein Name war Faz Domino. Jahrzehnte später hatte ich ihn in den 1990er Jahren zusammen mit meiner Frau mit großem Aufgebot im „Congress Centre“ wiedergesehen. Nach diesem Kurzabstecher in Long Beach brachte uns der nächste Taxidriver wieder mit so einem gewaltigen Buick zurück an Bord. Das waren 1959 meine ersten Eindrücke vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Am nächsten Morgen hatte uns der Hafenalltag wieder eingeholt. Nachdem wir unsere Teilladung Wolfsburger Käfer nach eineinhalb Tagen in Wilmington gelöscht hatten, gaben uns die Gewerkschaftsbosse grünes Licht, unsere Luken selbst seeklar zu machen. Ich weiß nicht, was der Kapitän extra an die UNION-Bosse abdrücken musste. Ganz bestimmt waren da etliche Flaschen „Black Lable“ einer bestimmten schottischen Whisky-Marke von Bord gegangen. Auf jeden Fall war das Seeklarmachen im Hafen bedeutend sicherer über die Bühne gegangen als nach dem Ablegen draußen auf dem offenen Meer, denn draußen auf See wehte es, was eigentlich in diesen Breiten selten vorkam. Allerdings, wir hatten ja erst Anfang März.
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