Zurückgekehrt vom Briefkasten setzte sich Günther Schmidter an den Frühstückstisch. Wie immer hatte ihm seine Frau Helga schon eine Tasse Kaffee eingeschenkt, die er wie immer zunächst unbeachtet stehen ließ, um sich erst der Lektüre der Traueranzeigen zu widmen.
„Nun leg doch erstmal die Zeitung weg und lass uns in Ruhe frühstücken“, nörgelte Helga wie an jedem Morgen.
Und wie an jedem Morgen schüttelte Günther Schmidter nur kurz den Kopf und erwiderte mürrisch:
„Erst die Anzeigen.“
Dann las er laut vor, wer alles gestorben war, wobei er die Verblichenen in zwei Kategorien einteilte: diejenigen, die zum Kundenkreis der Trauerhilfe Abendfrieden zählten und den Rest. Leider war die Leichenpopulation, die dem Rest zugerechnet werden musste, heute wie an jedem Morgen um das Mehrfache größer als die Schmidtersche Klientel. Günther Schmidters Laune erhielt einen zusätzlichen Dämpfer, als er las, dass Bäckermeister Piesenkötter, zu dessen treuen Stammkunden die Schmidters zählten, offenbar von der Konkurrenz zu Grabe getragen wurde. „Na dem werd ich was erzählen. Da kaufen wir jahrzehntelang seine zähen Brötchen und klebrigen Plunderteilchen und wenn er sich mal mit einem Gegengeschäft erkenntlich zeigen könnte, lässt er sich kackfrech von der Konkurrenz verscharren. Aber nicht mit mir! Ab heute wird bei dem nichts mehr gekauft – und das werd ich ihm bei nächster Gelegenheit auch mal mit ein paar ganz klaren Worten stecken!“ „Bei dem Piesenkötter können wir eh nichts mehr kaufen, weil er ja anscheinend tot ist“, erwiderte Helga Schmidter genervt. Wie immer in solchen Situationen geriet Günther Schmidter derart in Rage, dass ihm seine Frau nur mit Mühe klar machen konnte, dass es zur Eigenart des Versterbens gehört, dass der Verstorbene Standpauken, Drohungen und Beschimpfungen gegenüber kein offenes Ohr mehr hat, auch rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich ist und verbalen Attacken in der Regel mit stoischer Gelassenheit begegnet. Wütend über den mangelnden unternehmerischen Kampfgeist seiner Frau blätterte der Bestatter die Zeitung weiter durch. Auf der Seite mit den Geschäftsanzeigen erregte ein Inserat einer Unternehmensberatung seine Aufmerksamkeit. Angeboten wurde hier ein Seminar für kleinere Firmen aus Dienstleistung und Handel. Die teilnehmenden Kleinunternehmer sollten dort lernen, wie ihre vor sich hindümpelnden Unternehmen durch unkonventionelle Maßnahmen wieder zu voller Blüte gedeihen konnten und ihre Besitzer reich und glücklich machten. Günther Schmidter war von diesem Angebot spontan begeistert. Vielleicht könnte er hier Anregungen zur geschäftlichen Wiederbelebung der still dahinscheidenden Trauerhilfe Abendfrieden bekommen. Noch am gleichen Tag meldete er sich, seine Frau und Siggi Senkelbach für dieses Seminar an, das bereits in der nächsten Woche beginnen sollte.
Obwohl sich Helga Schmidter und Siggi Senkelbach wenig von der Teilnahme an dem Seminar für Kleinunternehmen versprachen, bestand Günther Schmidter darauf, dass sie alle drei dort mitmachten, um so der Trauerhilfe Abendfrieden einen entscheidenden Innovationsschub zu verpassen.
Außer den Schmidters und Siggi Senkelbach waren in dieser Veranstaltung keine weiteren Vertreter des Bestattungsgewerbes. Anscheinend war die Trauerhilfe Abendfrieden das einzige Bestattungsinstitut in der näheren Umgebung, das seinen Besitzer nicht reich und glücklich machte. Die übrigen Seminarteilnehmer waren meist Friseure, Kneipiers, Boutiquenbesitzer und Einzelhändler aus der Geschenkartikelbranche.
Der Seminarleiter, Herr Lampe, ein dynamisch auftretender junger Mann, hielt zu Beginn einen außerordentlich schwungvollen Vortrag über positives Denken. Sehr plastisch berichtete er davon, wie er in seinem Leben jede Niederlage als Chance begriffen habe und daraus immer wieder gestärkt hervorgegangen sei.
Seine raumgreifende Gestik, seine euphorische Intonation und sein nie enden wollendes Dauerlächeln erinnerten Günther Schmidter an eine Bestattung vor ca. vier Jahren, genauer gesagt an die damalige Trauerrede. Auf Wunsch der Angehörigen wurde diese von einem evangelikalen Prediger, der gerade seine Ausbildung in den USA absolviert hatte, gehalten. Die Predigt dieses Geistlichen glich einer öffentlichen Verkaufsveranstaltung in einer Fußgängerzone, wo in marktschreierischer Weise ein für jeden Haushalt absolut unverzichtbares praktisches Haushaltsgerät angepriesen wurde, dessen Kauf die garantierte Erlangung ewiger Glückseligkeit versprach.
Zusammengefasst lautete die Botschaft des Predigers, dass der Verstorbene seinen Tod doch auf jeden Fall als die Chance seines Lebens betrachten solle. Ob das der Leichnam genauso sah, blieb unklar. Sollte etwa der Tod seines Bestattungsinstituts für Günther Schmidter zu der Chance seines Lebens werden? Günther Schmidter war verwirrt. Der neben ihm sitzende Siggi Senkelbach schien Herrn Lampe dagegen offenbar gut zu verstehen, jedenfalls deutete sein zustimmender Gesichtsausdruck darauf hin. Wahrscheinlich erahnte Siggi Senkelbach eine tiefe Seelenverwandtschaft mit Herrn Lampe – hatten beide doch im Grunde die gleiche Botschaft für die geplagte Menschheit: Wird schon . Nur, dass Herr Lampe diesen knappen Hinweis zu einem gut einstündigen Vortrag ausgewalzt hatte. Angesichts dieses Ausbunds an guter Laune, Selbstvertrauen und Optimismus wurde Günther Schmidter richtig neidisch. Herr Lampe musste schon verdammt viele Niederlagen in Chancen verwandelt haben, so wie er hier auftrat. Vielleicht beflügelten ihn aber auch nur die saftigen Kursgebühren, die er vor Beginn seines Vortrags in bar eingesammelt hatte. Schmerzlich wurde Günther Schmidter bewusst, dass im Bestattungsgewerbe Vorkasse leider verpönt ist.
Nachdem der Vortrag beendet war, verteilte Herr Lampe Papier und Zeichenstifte und bat alle Kursteilnehmer, ihre geschäftlichen Träume ganz spontan und fantasievoll zu malen. „Entwickeln Sie Visionen, werden Sie zum Visionär“, war Herrn Lampes wenig konkreter Rat, als er sah, dass die meisten Teilnehmer zwar verträumt mit visionärem Blick zur Zimmerdecke schauten, dabei aber noch kreativ unentschlossen auf ihrem Buntstift kauten. Von Berufswegen zur Kreativität verdammt, fingen schon bald die Vertreter der Bastelbedarfsbranche als Erste an, entschlossen den Zeichenstift zu schwingen. Ihre zu Papier gebrachten Visionen erinnerten irgendwie an getöpferte Namenschilder für Eingangstüren. Neben viel putzigem ornamentalem Beiwerk brachten sie den Traum der Bastelbedarfseinzelhändler zum Ausdruck: heile Welt und genug Geld . Das Geldmotiv tauchte auch in den künstlerischen Machwerken fast aller anderen Kursteilnehmer auf, erfuhr jedoch bei den Friseuren und Boutiquenbesitzern eine leichte Steigerung ins Utopische: große Welt und sehr viel Geld . Die Kneipiers wiederum variierten das vorherrschende Leitmotiv mehr in Richtung Bodenständigkeit: genug Bier und keine Schulden . Herr Lampe ging durch die Reihen der frischgebackenen Visionäre, schaute sich die ästhetisch eher dürftigen aber mit viel persönlicher Hoffnung durchtränkten Kunstwerke an und nickte zufrieden. Offenbar hatte sein Einstiegsvortrag seine Wirkung nicht verfehlt, es gab keine Kreativitätsverweigerer und niemand stellte den Sinn dieser Malaktion in Frage. Die Geschäfte der Seminarteilnehmer schienen derart schlecht zu laufen, dass jeder bereit war, nach dem letzten rettenden Strohhalm respektive Zeichenstift zu greifen. Als Herr Lampe jedoch Günther Schmidters gemaltem Traum ansichtig wurde, zuckte er leicht zusammen und für einen winzigen Moment unterbrach er sein Dauerlächeln. Hatte dieser Teilnehmer denn überhaupt nichts von seinem Eröffnungsvortrag in sich aufgenommen? Günther Schmidters Zeichnung schien geradezu eine freche Negierung der Lampeschen Optimismusbotschaft! Das Zeichenpapier war randvoll mit schwarzen Kreuzen gefüllt. Günther Schmidter bemerkte Herrn Lampes kurze PositivDenk-Blockade, lächelte etwas verlegen und erläuterte: „Naja das ist halt so ein Wunschdenken von mir. Mit der Hälfte wäre ich eigentlich auch schon zufrieden.“ Offenbar braucht dieser Mann eher psychiatrische als unternehmerische Unterstützung , ging es Herrn Lampe durch den Kopf. Momentan war ihm nicht präsent, dass es sich bei Günther Schmidter um ein Mitglied der Bestatterzunft handelte. Irrigerweise ging er davon aus, dass Günther Schmidter Gastwirt sei. „Sie haben offenbar ein ambivalentes Verhältnis zu ihren Gästen. Ich finde das ganz toll, dass Sie das hier so offen ausdrücken können“, mutmaßte Herr Lampe vorsichtig. Die Bezeichnung Gäste bzw. Gast gefiel Günther Schmidter. Hatte was viel Verbindlicheres als der Tote oder der Leichnam oder der Verstorbene . Er nahm sich vor, seinen Sprachgebrauch dahin gehend zu optimieren. Herr Lampe schien einen guten Job zu machen! Nur mit dem Ausdruck ambivalent konnte Günther Schmidter nichts anfangen, wollte sich das aber nicht anmerken lassen. „Richtig, ich sag immer zu meinem Mitarbeiter“, Günther Schmidter deutete auf Siggi Senkelbach, „Hauptsache wir haben zu unseren Gästen ein ambivalentes Verhältnis.“ Siggi Senkelbach fühlte sich angesprochen, hatte jedoch nicht ansatzweise eine Ahnung, worüber sich sein Chef und Herr Lampe unterhielten. Deshalb gab er mit seinem bewährten unverbindlichen Lächeln seinen Standardspruch, „entweder et läuft oder et läuft nisch“ zum besten. Herr Lampe war ratlos. Ratlosigkeit war jedoch in seinem professionellen Verhaltensrepertoire nicht vorgesehen. Diesen Geisteszustand gestand er sich nur in Auseinandersetzungen mit seiner Lebensgefährtin Gabi zu, wenn diese ihn in ein Gespräch über ihre Visionen in Richtung Familiengründung verwickelte. Ratlosigkeit als Chance schoss es Herrn Lampe durch den Kopf. Mit diesem Gedanken konnte er aber spontan auch nicht viel anfangen – jedenfalls musste er sich diese Metapher für das nächste visionäre Gespräch mit Gabi merken, könnte Gabi evtl. von ihrem Familiengründungsgetue abbringen. Jetzt sagte Herr Lampe erstmal das, was jeder gut ausgebildete Berater sagt, wenn er überfordert ist: „Ich lass das jetzt einfach mal so im Raum stehen.“ Günther Schmidter und Siggi Senkelbach schauten sich im Seminarraum um, konnten aber nicht auf Anhieb erkennen, was der Seminarleiter wo stehen lassen wollte. Und so ließen auch sie erstmal alles dort stehen, wo es stand.
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