Er bewegte sich vorsichtig, um in eine bessere Position für einen Überraschungsangriff zu kommen. Dabei kullerte Geröll, das im Laufe der Jahre von der Höhlendecke auf den Drachen herabgebrochen war, von Ragnor'roks Rücken herunter.
Der kleine Mensch, den der Drache nicht aus seinem Blick entließ, blieb zögernd stehen.
"I-ist hier jemand?", rief dieser zögerlich in die schwarze Dunkelheit vor ihm, nichts ahnend, dass dort ein Drache hauste. Anscheinend hatte er das Geräusch der herabrollenden Steine gehört.
"Thomas? Bist du das?", kam ein unsicherer Ruf hinterdrein.
Langsam traute sich das Menschlein weiter in die Höhle hinein. Es war noch ein Knabe, erkannte Ragnor'rok nun. Schade. Nur eine halbe Portion. Und so wie es klang, suchte er wohl jemanden.
"Thomas, wenn du da drin bist, komm sofort raus! Das ist unheimlich! Kennst du denn nicht die Geschichten, die um dieses Loch erzählt werden? Hier soll doch ein fürchterlicher Drache gehaust haben, bis Sir Wenal ihn besiegt hat und Gott zum Dank dafür zum Kreuzzug nach Rom aufgebrochen ist. Wer weiß, vielleicht,... Nein. Den Drachen gibt es ja seit über 100 Jahren nicht mehr... jedenfalls, komm da raus, bitte, das ist einfach nur unheimlich hier drin", redete der Junge weiter, sich durch seine Geschichte selbst Mut zusprechend und die Gefahr, von der er nichts ahnte, verharmlosend.
Ragnor'rok grinste verächtlich. Ach so hatte der dämliche Ritter geheißen, der ihn das letzte Mal besucht hatte. War das schon so lange her gewesen? Er hatte wohl länger geschlafen als ursprünglich beabsichtigt. Lag vermutlich an der Wunde, die ihm dieser Eisenmann damals verpasst hatte und ihn für tot gehalten hatte. Jetzt war sie schon lange verheilt. Nun ja, so leicht war ein Drache nicht umzubringen. Es war nur eine schmerzhafte Fleischwunde gewesen, die ihn nicht daran gehindert hatte, diese Blechdose ein paar Wochen später aufzuspüren und sie auf ihrer Reise in einen sinnlosen Krieg zugunsten eines Gottes, der für Ragnor'rok ein Witz war, zu stellen. Die Überraschung in den Augen des Ritters würde Ragnor'rok niemals vergessen. Auch nicht den Geruch von Angst, als er erkannte, dass es kein Entkommen gab und Ragnor'rok ihn im Anschluss bei lebendigem Leibe zerfetzt hatte. Als kleines Bonbon danach hatte er sich noch um seine Mitreisenden gekümmert. Vollgefressen und satt hatte er sich dann wieder in sein Domizil zurückgezogen und, zugegeben, ein langes Verdauungsschläfchen gehalten, wenn er nebenbei die Zeitlinien um sich herum anzapfte und sie schmecken wollte. Für einen Drachen war das wie eine warme Zudecke für einen Menschen. Dabei konnte es passieren, dass man die Zeit vergaß. Ein kleiner Nachteil, wenn man ein Drache war, aber nicht weiter schlimm. Zeit spielte für ihn nur eine untergeordnete Rolle. Drachen waren eine unglaublich langlebige Spezies neben der Tatsache, dass sie auch Herren über die Zeit mit ihrer Magie waren.
Ragnor'rok spähte unter seinem einen Augenlid hindurch, das in Richtung Höhleneingang zeigte. Der Knabe kam immer noch zögerlich näher. Anscheinend war er sich über seine eigenen Worte nicht ganz sicher, die er gerade in das dunkle Loch hineingerufen hatte und hielt Ragnor’rok für den Gesuchten. Nur noch ein kleines Stück, dann würde er ihn mit einem Ruck packen können. Durch den langen Schlaf war er hungrig und brauchte Energie, um wieder fit zu werden. Ein Glücksfall, dieser Junge. Vor allem, da der Höhleneingang sehr schwer zu erreichen war und deshalb so gut wie nie einer freiwillig hier auftauchte. Man musste klettern können. Abgesehen davon hielten sich die Menschen von dieser Höhle lieber fern. Aus gutem Grund, denn sie spürten unbewusst die davon ausgehende Magie. Normalerweise.
"Thomas? bist Du hier?" wiederholte der Kleine leise. Doch eine Antwort bekam er auch diesmal nicht. Ein Seufzen war zu hören. Weiter vor wagte sich der Eindringling nicht mehr und machte gerade wieder Anstalten, umzukehren. Er warf einen letzten Blick in das ehemalige Drachenloch.
"Thomas?"
Doch alles was zurückkam, war ein Echo des Gesagten, von den Felswänden zu Matthias zurückgeworfen.
Ragnor'rok spannte seine gewaltigen, vom langen Liegen steif gewordenen Muskeln an. Wie eine Katze lag er nun auf der Lauer. Seine gewaltigen Krallen verloren ihren steinernen Schatten. Blank und schwarzblau schimmerten sie nun in der Dunkelheit. Auch der Rest des Ungetüms legte den Deckmantel der Steinfassade ab. Schuppen von grüngrauer mit schwarz melierter Farbe kamen darunter zum Vorschein.
Doch der Junge am Eingang konnte nichts davon sehen, stand er doch mit dem Licht im Rücken zu Ragnor'rok und musste in die Dunkelheit spähen. Solch einen Scharfblick hatten Menschenaugen einfach nicht. Primitiv entwickelt, dachte der Drache für sich. Nicht mehr, als dummes Futter.
Als der Junge sich umwenden wollte, um wieder von dannen zu ziehen, ergriff Ragnor'rok seine Chance. Er würde diesen Leckerbissen nicht entkommen lassen. Niemand durfte seine Höhle ungestraft betreten. Früher nicht, und auch jetzt nicht.
Es gab wieder einen Drachen bei Trackenstein, nämlich ihn, Ragnor'rok! Nun ja, derselbe Drache wie damals wohl, aber das wussten die Leute ja nicht, dachte der böse Lindwurm amüsiert.
Wie ein Panther sprang der große Ragnor'rok auf sein hilfloses Opfer los, das ihm unwissend den Rücken zugewandt hatte.
Der elegante Drachenkörper glich einem Pfeil, der die Strecke zwischen seinem Liegeplatz und dem Knaben binnen Sekunden zurücklegte, was man ihm nicht zugetraut hätte, wenn man ihn noch vor kurzem in seiner Schlafposition gesehen hatte. Dort hatte er träge und fett gewirkt. Doch der Schein trog. Wie so oft.
Der unglückliche Junge hatte keine Chance.
Er spürte einen harten Stoß in seinem Kreuz, wurde nach vorn geschleudert von einer Kraft, die er weder gesehen, noch erwartet hatte. Doch bevor er einen Schrei ausstoßen konnte, wurde er von dem Drachen fester gepackt. Ein Biss, und der Brustkorb des Knaben knackte vernehmlich. Luft entwich zischend aus seinen gepeinigten Lungen. Schmerz durchfuhr ihn gnadenlos.
Ragnor'rok drückte erbarmungslos seinen kräftigen Kiefer zusammen. Spitze Zähne bohrten sich in das Fleisch des Jungen. Unsägliche Pein und Überraschung standen ihm im Gesicht. Blut lief ihm aus Mund und Nase und tropfte auf den kalten feuchten Höhlenboden unter ihm. Sekunden später erschlafften seine Züge.
Es war vorbei.
Der Drache spürte, wie sich der krampfende Körper zwischen seinen Zähnen entspannte. Zufrieden legte er sich an den Höhleneingang und begann, seine Beute zu verspeisen.
Als er damit fertig war, erhob er sich, leckte sich die riesigen Vorderklauen sauber, mit denen er seine Beute festgehalten hatte und betrachtete die Wälder um sich.
Ein triumphierender, unmenschlicher Schrei entfuhr seiner Kehle, die jedes Lebewesen im Umkreis von einem halben Kilometer um das unselige Drachenloch herum zusammenfahren ließ. Nur die Menschen, die sich in Trackenstein aufhielten, die bekamen davon nichts mit. Dafür hatte der Drache mit seinem magischen Bann vor langem schon gesorgt. Um von seiner Anwesenheit in dieser Ecke des Tales Kenntnis zu erlangen, mussten sie sich schon in unmittelbarer Nähe zu seiner Wohnstatt befinden, den sehnlichen Wunsch verspüren, sein Zuhause aufzusuchen oder magisch veranlagt sein.
Apropos Nähe. Der Junge war eigentlich zu nah gewesen, oder?
Ragnor'rok faltete seine Flügel auseinander und führte prüfend ein paar Flügelschlage damit aus, um seine Glieder vom langen Schlaf wieder geschmeidig und gefügig zu machen. Hm. Er hatte noch Hunger. Viel dran war an dem Menschlein ja nicht gewesen, stellte er zu seinem Bedauern fest. Der Junge hatte doch jemanden gesucht, nicht wahr? Vielleicht rannte ihm dieser Thomas ja zufällig über den Weg. Vielleicht war an dem mehr dran als an seinem gerade verschlungenen Häppchen. Gegen einen weiteren Happen hätte er definitiv nichts einzuwenden, dachte Ragnor'rok schmatzend, machte aber keine Anstalten, auf die Suche nach diesem Thomas zu gehen. Viel lieber als das würde er sich jetzt vor das Drachenloch legen und sich die Sonne auf die dunklen Schuppen scheinen lassen, um richtig fit zu werden. Ragnor'rok wägte kurz ab.
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