1 ...7 8 9 11 12 13 ...33 Mathilda drehte sich vom Fenster weg und ging zwischen ihren Geschwistern hindurch in den Raum hinein auf die andere Seite. Dort war ein zweites Fenster, dem sie sich nun zuwandte. Von hier aus konnte sie den Rest der Burg überblicken, sofern einem die anderen Gebäude nicht den Blick versperrten. Es gab ein Magazin, oder anders ausgedrückt, ein Vorratshaus mit großen Gewölbekellern, die randvoll mit den unterschiedlichsten Waren gefüllt waren. Korn, haltbar gemachtes Fleisch, Tuch, Schwarzpulver und noch vieles mehr befanden sich darin. Eben alles, was man auf einer Festung wie dieser zum Leben so brauchte. Auch dieses Gebäude ragte hoch auf und war mit dem Wohnhaus und der Wehrmauer verbunden.
Vor dem Bergfried, der nun rechter Hand zu finden war, teilte ein Burggraben die Hauptburg von der Vorburg ab. Der Wehrgraben war ungefähr fünf Meter breit und drei Meter tief. Um von der Vorburg in die Hauptburg zu gelangen, führte eine hölzerne Brücke darüber. Ein weiteres Tor verhinderte, dass hier ungebetene Gäste ohne Erlaubnis eintreten konnten. Dahinter schloss sich die Vorburg an. Dort waren die Häuser und Arbeitsstätten der Burgbediensteten zu finden, wie etwa die Hofküche, der Schmied und auch die Stallungen der Herrschaften. Manche Dinge konnte man selbst auf der Burg herstellen, andere wiederum ließ man sich aus dem Dorf am Fuße des Schlossbergs heraufbringen. Manchmal wurden die Handwerker selbst auf die Burg herauf bestellt, um etwas zu reparieren, das nicht oder nur schwer transportiert werden konnte. Manchmal auch deshalb, weil es einfacher war, Dinge direkt vor Ort fertig zu stellen, als dass die gesamte Gerätschaft oder Ware mühsam das letzte Stück Weges zur Burg, welches sehr steil war, hinaufgeschafft werden musste.
Unter anderem hatte Mathilda das Glück gehabt, bei einer solchen Gelegenheit Korvin zu sehen. Er war in Begleitung eines älteren Mannes auf die Burg gekommen. Dem Aussehen nach musste es sich dabei um seinen Vater handeln. Wie sie später herausfand, war Korvins Vater der hiesige Sattler und hatte beruflich für ihren Vater in den Stallungen zu tun gehabt. Ansprechen konnte sie ihn dabei leider nicht. Sie hatte Korvin seit ihrem ersten Treffen vor acht Jahren ein paar Mal wiedergesehen. Zwei Mal direkt am Findlingsstein, ansonsten hier auf der Burg, wo sie sich jedoch mit dem nun zu einem jungen Mann heran Gewachsenen nicht hatte unterhalten können.
Trotzdem verband die beiden etwas miteinander seit damals. Sie teilten etwas, das sonst keiner hatte. Und die beiden verstanden es auch, auf eine Art und Weise in Kontakt zu bleiben, die eher ungewöhnlich war. Briefe schieden aus, da Korvin nicht lesen oder schreiben konnte. Aber sie hinterlegten nun seit Jahren immer wieder gegenseitig etwas am Fuße des Findlingssteins füreinander. Kleine Aufmerksamkeiten, die dem anderen zeigen sollten, dass man ihn nicht vergessen hatte.
Mathilda hatte damit angefangen. Nachdem Korvin ihr den Ball geschenkt hatte, wollte sie ihm auch etwas zukommen lassen, was ihn an sie erinnern sollte. Daher hatte sie in aller Heimlichkeit ein Taschentuch stibitzt und es mit Stickereien verziert. In der Mitte hatte sie seinen Namen eingestickt. Dann hatte sie es in ein Wachstuch eingeschlagen, zusammengebunden und das kleine Bündel am Felsen abgelegt. Als sie das nächste Mal dort gewesen war, war es verschwunden gewesen. Dafür lag eine abgepflückte Türkenbundlilie an seiner Stelle. Leider hatte die Blume trotz des nahen Wassers nicht überlebt und war verwelkt. Aber die Botschaft, die dahinter steckte, war von Mathilda verstanden worden. Er hatte sich auf diese Weise für das Geschenk bedankt.
Und so ging es über die Jahre hinweg weiter. Mal legte der eine, mal der andere ein Kleinod ab, damit der andere es finden konnte. Dabei handelte es sich immer um Gegenstände, die selbst gemacht und unverderblich waren. Konnte man doch nicht wissen, wann der andere wieder diese Stelle aufsuchen würde. Aber es wurde stets am selben Fleck deponiert. Und sogar gegen die Nässe hatten sie etwas gefunden: Zwei von Korvin gefertigte Lederbeutel, die ineinander geschoben wurden und unter dem Laub versteckt wurden, damit niemand anderes sie finden konnte. Das Wachstuch wurde ab da nur noch als Verpackung in den Beuteln verwendet. Für Korvin waren die Ausflüge an ihren gemeinsamen Ort nicht weiter schwer. Mathilda dagegen kam sehr viel seltener dorthin. Irgendwann hatte sie mit Tante Lisbet die Vereinbarung getroffen, dass sie, wenn sie beide einen gemeinsamen Ausflug von der Burg in Richtung Tal und Umgebung machten, auch ein Stück alleine herumstreunen durfte. Weil Mathilda des Öfteren ausgebüxt war, hatte sie lieber das kleinere Übel gewählt und ließ ihr ihren Willen, mit dem Versprechen, dass sie nie länger als eine halbe Stunde fort blieb. Sie konnte dem Kind, wie Mathildas Vater auch, nichts abschlagen. Und auf die gemeinsamen Picknicke verzichten wollte die einstige Amme auch nicht, war sie doch selbst sehr gerne draußen. Außerdem konnte man das Kind schlecht auf der Burg einsperren. Aber niemand durfte davon wissen, sonst war es mit den Spaziergängen und Erkundungen schlagartig vorbei. Also suchten sie sich immer relativ abgelegene Stellen, die von der Burg aus nicht einzusehen waren.
Mathilda hielt sich an die Abmachung und genoss gleichzeitig ihre kleinen Freiheiten. Die Geschenke Korvins, die sie am Findling fand, versteckte sie meist vor Lisbets Augen in einer Umhängetasche, welche sie immer bei sich trug.
Heute, hatte Mathilda beschlossen, würde sie zu Korvin Hallo sagen, wenn er auf die Burg kam. Und das würde er, das wusste sie. Hatte sie doch den Burgvogt bei seinen Geschäften belauscht, die er im ersten Stock des Hauses in Vaters Arbeitszimmer abhielt, während ihr Vater am Hof des Kaisers weilte. Das Gespann musste an zwei Stellen repariert werden. Mathildas Zaumzeug ebenso. Aber das wusste man noch nicht, dachte sie für sich und sah weiter hinaus.
Das herrschaftliche Haus, oder besser der herrschaftliche Wohnturm, auch Palas genannt, hatte insgesamt vier Stockwerke. Im Erdgeschoss befand sich ein fest gemauerter Saal mit Stein-Gewölbe als Decke und mit kleinen, wenigen Fenstern im Mauerwerk. Eine schmale Küche war darin zu finden, damit nicht alle Mahlzeiten quer über den Hof getragen werden mussten. Außerdem dienten der Ofen und der dazugehörige Kamin dort gleichzeitig als Heizung für das Haus. Über eine Treppe konnte man die anderen Stockwerke erreichen. Darüber waren die Wände des Gebäudes aus Fachwerk errichtet worden und es ragte mit den obersten beiden Stockwerken über die umgehende Wehrmauer hinaus. Die Dachränder an der Firstseite waren zinnenhaft geformt.
Im ersten Stock befand sich wie bereits erwähnt das Arbeitszimmer ihres Vaters. Hier erledigte er Schreibarbeiten, empfing seine Gäste, sprach Recht und hielt seine Grafschaft am Laufen. Wenn Friedrich von Helfenstein nicht da war, übernahm der Burgvogt diese Tätigkeiten.
Im zweiten Stock, in dem sich Mathilda gerade aufhielt, befand sich die Wohnstatt der herrschaftlichen Familie. Der letzte Stock, der sich zwischen den abfallenden Dachkanten befand und einiges an Dachschräge aufwies, enthielt ein weiteres kleines Zimmer, das aber nicht beheizt werden konnte. Daher diente es vorwiegend als Lagerraum.
Mathilda wurde es überdrüssig, zu warten bis Lisbet wieder zurückkehrte. Sie würde sie ohnehin nicht gehen lassen.
"Ich bin gleich wieder da. Seid artig bis ich wieder komme", sagte sie zu ihren Geschwistern, Wilhelm und Anna.
"Bringst du uns etwas mit, wenn du zurückkommst?", fragte der 11-Jährige.
"Klar doch", versprach sie dem Jungen, der gefragt hatte. Also schlich Mathilda die Treppen hinunter und trat aus dem Wohnhaus heraus, darauf bedacht, von Lisbet nicht gesehen zu werden. Es nieselte. Ein trübes Wetter, das einem aufs Gemüt schlagen konnte. Trotzdem war Mathilda gut gelaunt. Sie huschte in die Vorburg und steuerte auf die Zisterne zu. Dort angekommen, hielt sie kurz an, um etwas zu trinken. Das Wasser schmeckte abgestanden, aber das störte sie nicht. Das Mädchen ließ den an einen Strick gebundenen Eimer zurück in die Zisterne gleiten und übergab den Strick an Mart, einen der Knechte, der hinzu getreten war und ebenfalls Wasser schöpfen wollte.
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