"Ach Schmarrn, Widolf. Der Jung ist doch erst 6 gewesen. Glaubst du, da denkt der schon an sowas", kam eine Stimme aus dem Hintergrund.
"Sagst du."
"Ja, sag ich." Ein weiterer Mann drängte sich durch die Dörfleransammlung hindurch zum Tisch. Der Schmied grunzte nur und stand wieder auf.
"Wenn Du's besser weißt, dann erzähl doch du", sagte er beleidigt und hob die Faust.
"Tu ich auch. Und hör auf mit der Drohung, Widolf. Wir wissen alle, dass du schon viel zu viel Bier im Schädel hast für eine Rauferei." Die Anderen lachten und der Schmied entspannte sich, als ihm ein anderer seinen halbvollen Bierkrug zur Besänftigung reichte.
"Da, trink, und hör selber zu."
Derjenige, der sich gerade eingemischt hatte, sprach nun weiter.
"Hast du den armen Kerl mal in echt gesehen? Ich schon. Mit dem ist nicht mehr viel her. Der ist plemplem würd ich sagen.“ Eine entsprechende Geste seiner Hand untermauerte seine Worte. “Aber so richtig. Der reagiert kaum, wenn man ihn anspricht. Brabbelt wirres Zeug und ständig kritzelt der Sachen in den Dreck, die keiner recht erkennen kann. Die armen Eltern, die können einem echt leidtun. Die haben zwei Söhne an einem Tag verloren."
Die Anderen drum herum nickten stumm und mitfühlend. Dann warf einer dazwischen:
"Und vergesst die Grafentochter nich, die war au weg."
"Ach komm, Wolfgang. Die zählt jetzt wirklich nicht. Die is ja wieder aufgetaucht. Schon schlimm genug, wenn das Gör nich richtig reiten kann und dumm verunglückt."
Korvins Wange zuckte, ein Zeichen, dass ihn das Gesagte wütend machte. Er ließ sich aber nichts anmerken. Jetzt plapperten wieder alle durcheinander und Korvin musste sich um die Bestellungen, die an ihn herangetragen wurden kümmern. Um das zu erledigen verließ er den Tisch. Doch das Gespräch war noch nicht vorbei. Korvin versuchte, weiter mit einem Ohr hinzuhören.
"Ich habe gehört, dass euer Nachbarort nicht umsonst Trackenstein heißt? Welche Geschichte steckt denn da dahinter? Ich bin schließlich immer auf der Suche nach guten Geschichten, ihr versteht?"
"Och, des Örtle soll noch ama Dracha benannt sei, der dort unterhalb vom Kaff gelebt hot. Des isch abr scho lang her", sagte der Bauer Tom gelangweilt. Fast jeder Vorbeikommende fragte danach. Für die Dörfler war das in der Tat schon langweilig. Immer die gleiche Geschichte. Korvin jedoch hielt in seiner Tätigkeit inne.
Ein Drache! Aber ja doch!
Das konnte es sein. Unbewusst tastete er mit einer Hand zu der herrenlosen Schuppe in seiner Tasche. Sie könnte zu einem Drachen gehören! Auch die Spuren auf Daras Flanke könnten dazu passen. Aber hatten Drachen auch schwarzes Blut? Möglich wäre es durchaus. All die Jahre über lebte er nun schon in Tizimbach. Er kannte alle Sagen und Legenden, die man den kleinen Kindern im Dorf erzählte. Warum war er nicht schon eher darauf gekommen? Er kannte doch auch die Sage von dem Drachen! Er hätte sich ohrfeigen können, hier und jetzt. Doch das Gespräch ging weiter und Korvin lauschte nun noch angestrengter hin.
"Joa, aber den gibt's schon lang nich mehr. Wurde angeblich von nem Ritter totgemacht, der dann in den Kreuzzügen fiel."
"Aha. Also gibt’s den nicht mehr?"
Ein einheitliches Kopfschütteln kam als Antwort.
Ach ja, richtig. Der Drache war ja schon lange tot. Die Verzweiflung kam zurück. Vielleicht war die Schuppe ja nur zufällig dort gewesen und schon mehr als einhundert Jahre alt oder so. Vielleicht hatte er die ganze Zeit eine falsche Fährte verfolgt, kam es ihm.
Der Schankwirt rempelte ihn unsanft an.
"Nicht glotzen und Maulaffen feilhalten. Ich bezahl dich nur fürs Arbeiten, Korvin. Also los, mach schon." Korvin nickte und nahm den Ausschank wieder auf, den er in Gedanken versunken kurzfristig eingestellt hatte.
Nachdem sich die Gespräche in andere Richtungen bewegt hatten und die Spielleute fertig gegessen hatten, wurde es noch ein lustiger und geselliger Abend. Die Bude wurde voller und voller. Sie hielten ihr Versprechen und gaben eine kurze Vorstellung ihres Könnens zum Besten. Jedem Dorfbewohner war eine Abwechslung in diesen Tagen recht. Man hatte den Spielleuten sogar das Versprechen abgerungen, den morgigen Tag noch zu bleiben, damit auch die Frauen und Kinder ein wenig Abwechslung in der winterlichen Einöde genießen konnten, gegen Bares, verstand sich.
Irgendwie ließ ihn die Sache mit dem Drachen nicht mehr los, seit er sie gehört hatte. Korvin hatte seine Arbeit in der Schänke getan und lief durch die Nacht zurück nach Tizimbach.
Am nächsten Tag auf seinem Weg grübelte er und hatte keinen Blick für die Schönheit, die ihn umgab. Es war zwar kalt, aber der Frühling kündigte sich bereits in Form von herauslugenden Schneeglöckchen und Winterlingen an. Bald würden ganze Heere von Märzenbechern und Buschwindröschen den Waldboden überziehen.
Könnte es wirklich ein Drache sein, der hinter Mathildas Verschwinden steckte? Die Schuppe sprach dafür, auch wenn er nicht sicher war, ob sie nicht schon viel, viel älter war und eben nicht verrottete. Doch das konnte er sich kaum vorstellen. Das Teil war zwar hart wie die mehrfach gefaltete Klinge eines Schwerts, aber auch sie musste im Lauf der Jahre verderben, wie alles, was die Natur hergab. Deshalb glaubte Korvin, dass sie nicht alt, sondern erst kürzlich dort in der Nähe des Findlings verloren gegangen war. Bei Mathildas Angriff. Denn den Dolch, der damals gefunden worden war, hatte Korvin nicht vergessen. Er hatte auch von mehreren Geschichtenerzählern gehört, dass Drachen ab und an Jungfrauen stahlen, um sie zu essen oder manchmal um sich mit ihnen zu paaren. Gab es denn keine Drachenbräute? Nun ja, auch egal, dachte Korvin. Da schieden sich die Geister sowieso voneinander, was jetzt stimmte. Vielleicht gab es Drachen gar nicht. Wenn es sie gab, waren diese Monster in den Erzählungen meist auf Gold und Silber aus. Vielleicht aber war tatsächlich ein Drache dafür verantwortlich.
Nur, wie konnte er seine Theorie bestätigen? Und wo lebte das Ungetüm? Er beschloss, sich in den Dörfern umzuhören, ob es nicht irgendwo einen Hinweis gab, der auf einen neuen Drachen in der Umgebung hindeutete.
Leider hatte das Umhören nichts gebracht. Jetzt war Korvin wieder am Anfang. Meist lachten ihn die Leute nur aus, wenn er danach gefragt hatte. Seine Eltern glaubten, er würde langsam den Verstand verlieren. Korvin war das egal. Er kannte sein Ziel. Dafür hatte er sogar das Bällemachen aufgegeben, was die Dorfjugend mit Bekümmerung feststellen musste. Seine mit Stoff überzogenen aufgeblasenen Schweinsblasen waren dort der Renner! Aber das störte ihn nicht. Er war so nah dran, dachte er. Denn die Zeit lief immerzu. Lange hielt Ulrichs Ultimatum nicht mehr. Gerade mal acht Wochen blieben ihm noch.
Aber gab es nicht doch noch eine Möglichkeit? Er erinnerte sich an das Gespräch im Wirtshaus zurück. Hatte man nicht von einem Kind gesprochen, welches verrückt geworden war? Wo wohnte es nochmal? Es fiel ihm wieder ein: Trackenstein. Er musste nach Trackenstein hoch und wenigstens versuchen, mit dem Jungen zu reden. Auch wenn die Chance gering war, etwas aus dem armen Tropf heraus zu bekommen. Aber er musste doch Mathilda finden!
Mathilda indes fand sich immer besser mit ihrem momentanen Schicksal zurecht. Sie hatte die Drachenhöhle komplett umgekrempelt, ganz zum Ärgernis Ragnor'roks. Aber das war ihr egal. Mittlerweile ging sie mit dem Drachen um wie mit einem alten Bekannten. Wenn ihr was nicht passte, tat sie dies lautstark kund. Er ebenfalls. Der Drache hatte mehr als einmal überlegt, ob es sinnvoll gewesen war, sich ausgerechnet ein menschliches Weib als Hort anzuschaffen. Aber dann, wenn er sie anblickte, wenn er die Gestirne in ihr sah, dann wusste er, dass es richtig gewesen war. Sie verkörperte sein tiefstes Begehr. Die Scheu vor ihm hatte sie immerhin schon verloren. Wenn sie nur endlich mal Zutrauen zu ihm zeigen würde... doch das war so gesehen noch in weiter Ferne, wenn es nach Mathilda ging. In gewisser Weise mochte sie den Drachen. Man arrangierte sich mit den Gegebenheiten, wenn sie nur lange genug auf einen einwirkten. Doch lieben würde sie ihn nie. Dieser Platz in ihrem Herzen war bereits von einem anderen besetzt, hatte sie festgestellt. Sie hätte es nicht geglaubt, wenn man ihr das vor der Entführung durch Ragnor'rok ins Gesicht gesagt hätte. Sie liebte Korvin, allem Widerstand und allen gessellschaftlichen Zwängen zum Trotz. Allen gesellschaftlichen Zwängen zum Trotz. Doch hier gab es diese Zwänge nicht, was Mathilda gut fand.
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