Mathilda zitterte.
Ihr war trotz des Feuers und der Decken kalt. Aber nicht, weil es von der Temperatur her kühl war, nein, sondern Sie hatte immer noch Angst. Große Angst.
War das ihr Schicksal? Würde Sie für ewig hier bleiben müssen? Oder würde Rettung kommen?
Wer würde Sie retten wollen? Wollte Sie überhaupt zurück? Daheim würde sie an diesen unbekannten Horche verheiratet werden und fast nach Afrika hinunter abgeschoben werden.
Wollte Sie das überhaupt? War es hier nicht besser?
Definitiv nicht, dachte sie bestimmt. Alles war besser, als bei einem Drachen leben zu müssen! Sollte sie jemals gerettet werden, dann würde sie sich mit Handkuss dem Willen ihres Vaters beugen...
Unwillkürlich tauchte Korvins Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf und ihr Entschluss kam plötzlich stark ins Schwanken, den sie gerade beschlossen hatte. Korvin. Glaubte er auch, dass sie tot war?
Oder, wie der Drache ihr belustigt erzählt hatte, dass sie vom Teufel geholt worden war, wie sich die Dorfbewohner von Tizimbach untereinander erzählten?
Tränen quollen aus Mathildas Augen bei diesem Gedanken. Keiner glaubte, dass man ihr helfen konnte. Der Teufel war es jedenfalls nicht gewesen, aber so etwas ähnliches, dachte sie bitter und wischte sich eine Träne von der Wange. Worte, die vor langer Zeit gesprochen worden waren kamen ihr in den Sinn. Ausgesprochen zwischen zwei Kindern, die sich gegenseitig Unterstützung zugesichert hatten, wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten gelangen würde.
Hoffentlich fiel Korvin sein Versprechen ein. Hoffentlich würde wenigstens einer nach ihr suchen und diesen schrecklichen Gerüchten keinen Glauben schenken! Sie wünschte es sich. Sie wünschte es sich so sehr! Aber warum sollte der Sattlerssohn sein Leben für sie riskieren? Für ein Versprechen, das sich einst zwei Kinder gegeben hatten, dachte sie weiter. Ihr fiel kein guter Grund ein. Die Hoffnung, die in ihr aufgekeimt war, erlosch so schnell, wie sie gekommen war. Weitere Tränen rollten über ihr Gesicht. Sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Mathilda schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es irgendeinen Menschen auf dieser Erde gab, der sie noch nicht aufgegeben hatte. Sie wünschte sich sehnlich, dass es Korvin sein würde. Korvin, für den sie offenbar mehr übrig hatte, als sie bisher geglaubt hatte. Der ihr wichtig war, stellte sie fest. Vielleicht war es besser, es wäre nicht Korvin, der sie suchte.
Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, dem Drachen ihre Verzweiflung nicht zu zeigen. Es gelang nur mäßig. Tagsüber, ja. Nachts jedoch... selten. Jetzt kam auch noch eine unbestimmte Angst um einen anderen hinzu, ein völlig irrsinniges Gefühl. Sollte sie sich nicht lieber um sich selbst Sorgen machen? Seltsamerweise tauchte diese Angst nur auf, wenn sie an Korvin dachte. Diese Angst überdeckte sogar ihre Fragerei um ihr Schicksal. Das war dämlich, oder? Korvin war schließlich nicht in Gefahr. Sie schon. Aber so unberechtigt war das nicht, fand sie. Was wenn er doch auf die Idee kam, sie zu suchen? Denn, sollte wirklich irgendjemand nach ihr fahnden, wie sollte dieser Jemand an dem Drachen vorbeikommen ohne von ihm getötet zu werden? Korvin würde sicherlich nicht nach ihr suchen, versuchte sie sich einzureden. Einerseits wünschte sie sich das, andererseits wünschte sie sich aber, dass er es tat. Und dann fühlte sie sich wieder schlecht, dass sie so egoistisch war, gerettet werden zu wollen- von ihm.
Mathilda rollte sich unter ihren Decken zu einem Ball zusammen. Erst, als keine Tränen mehr kamen und sie in ihrem Gram den alten Ball fest in ihrer Hand als Trost hielt, schlummerte sie endlich ein.
Kapitel 11
Im Vilsthal, Jahreswechsel anno 1427/1428
Ulrich hatte seinem Vater alles von der erfolglosen Suche erzählt. Inklusive, dass er den Sattlerssohn aus dem Dorf damit beauftragt hatte, nach Mathilda zu suchen. Allerdings verschwieg er seinem Vater, warum dieser Jemand nach ihr suchte. Friedrich dachte, Ulrich hätte diesem Geld angeboten. Dass dabei unchristliche Reden im Spiel waren und zusätzlich eine unausgesprochene Todesdrohung damit zusammen hing, das wusste der Graf nicht. Für ihn war diese Tatsache, dass gesucht wurde, ein kleiner Hoffnungsschimmer, fand Friedrich, der Mathilda abgöttisch liebte, obwohl sie nicht ganz so feines Benehmen hatte und doch eher Interessen wie ein Junge zeigte, als andere Mädchen von adligen Stand. Aber es war ihm egal. Das Geschwätz des einfachen Volkes wurde ihm bald lästig, so unterband er es. Immerhin ging es dabei um seine Tochter. Und dieses Gerede war eine glatte Lügerei.
Aber das konnten sie auch. Ein paar Wochen später ließ der Graf das Gerücht verbreiten, dass Mathilda gefunden worden war. Dass Sie vom Pferd gestürzt war und jemand von Türkheim sie gefunden und gepflegt hatte. Erst später hätte diese gute Seele mitbekommen, wo Mathilda hingehörte und die Grafen über ihren Verbleib informiert. Sie, Friedrich, Ulrich und der Burgvogt hatten daraufhin beschlossen, dass Mathilda durch den Sturz immer noch schwer krank sei und das Bett hüten müsse. Erst wenn es ihr wieder besser ging dürfe sie aufstehen und sich sehen lassen. Sollte sie nicht mehr auftauchen, konnte man einfach sagen, dass sie an den Folgen der Krankheit und des Sturzes gestorben sei. Was Daras Verletzungen anbetraf, so wurden Sie heruntergespielt und darauf geschoben, dass das Pferd in seinem Wahn an mehreren herausstehenden Ästen entlanggeschrammt war und sich dadurch die tiefen Verletzungen zugezogen hatte. Der geschwärzte Dolch verschwand unauffällig. Hans von Berlingen, der ihn auch gesehen hatte, wurde für sein Stillschweigen gut bezahlt.
So erschien alles in bester Ordnung.
Ulrich ließ Korvin jedoch wissen, dass es eine erdachte Lüge war, bevor er durch seinen Beruf als Reisiger wieder abberufen wurde und dass dieser keineswegs seine Suche abbrechen durfte. Im Gegenteil. Korvin geriet nun vermehrt unter Druck, Mathilda tatsächlich zu finden und zurückzubringen. Entweder lebendig, oder aber ihren Leichnam. Kein leichtes Unterfangen. Korvin bekam von dem Helfensteiner ungehinderten Zugang zur Burg mit der Auflage, nur ihm oder Ulrich direkt Bericht erstatten zu dürfen.
Ulrich war also wieder fort, schließlich war er momentan einem der süddeutschen Fürsten verpflichtet und musste seiner Arbeit wieder nachkommen. Auch Friedrich konnte nicht permanent auf der Hiltenburg verweilen, sondern musste seinen Geschäften nachgehen. Die Pflicht verlangte, dass er sich am kaiserlichen Hof sehen ließ.
Seiner Frau und seinen Kindern hatte er eingebläut, dass sie das üble Spiel besser mitspielten und sich nicht anmerken ließen, dass es nicht der Wahrheit entsprach. Sie taten es. Alles war besser als dass sich das Gerücht mit dem Teufel in der Bevölkerung festigte und die Familienehre dadurch irreparabel beschädigt wurde. Schließlich fürchteten sie um den guten Ruf des Helfensteiner Geschlechts.
Mathilda war mürrisch. Äußerst mürrisch. Es war tiefster Winter. Aussicht auf Rettung sah sie immer noch nicht. Sie war im Drachenloch und dessen Umgebung gefangen, wer weiß, wie lange dies ihr Schicksal sein würde. Bei dem Wetter allerdings hegte sie keine großen Ambitionen, die Höhle zu verlassen. Es war eisig draußen. Und sie hatte schlechte Laune. Ragnor'rok seufzte. Schon seit einer halben Stunde rannte Mathilda schimpfend durch das Drachenloch. Unleidige Weiber waren auch für einen Drachen schwer zu ertragen. Und warum? Wegen...
"Du dummer Riesenklops eines Feuerdrachen!", gab Mathilda von sich und blieb vor Ragnor'rok stehen. "Du hast mich entführt und dir nicht mal vorher Gedanken gemacht, wie das alles danach werden soll? Sieh mich doch mal an! Meine Kleidung ist vollkommen untauglich!" Dabei zupfte sie an dem Stoff, der sie umhüllte. Er sah mehr als verschlissen aus und stand vor Dreck. Ragnor'rok sah sie grummelig an. "Und nicht nur das", ging es weiter. "Ich bin noch nicht mal eine tolle Näherin, um aus dem was Brauchbares zu schneidern, was du mir ständig anschleppst! Tolle Stoffe, ja, aber ich habe nicht mal eine vernünftige Nadel, geschweige denn einen Faden um was draus zu fummeln", schimpfte sie weiter und stemmte die Arme angriffslustig in die Hüften. Die anfängliche Scheu und Angst vor Ragnor’rok hatte sie mit der Zeit verloren.
Читать дальше