"Dieser Nichtsnutz! Ständig streunt er in der Gegend herum anstatt hier seinen Aufgaben nachzukommen! Ich dachte, er sei erwachsen, dabei verhält er sich immer mehr wie ein kleines Kind!", platzte es aus ihm heraus. "Ein Taugenichts ist er, jawohl! Nur Bälle und dummes Zeug hat er im Kopf. Nehmt euch ja kein Beispiel an eurem Bruder", herrschte er daraufhin die jüngeren Geschwister an, die betroffen schwiegen. Ihr Vater hatte öfters solche cholerischen Ausbrüche. Da war es nicht gut, ihm als Kind oder Jugendlicher zu widersprechen.
"Karl!", wies ihn seine Frau zurecht. "Du weißt, dass das nicht stimmt. Korvin ist ein guter Junge. Wir haben zu essen und genug Geld, um uns das nötigste zu kaufen, was wir sonst so zum Leben brauchen."
Der Sattler schnaubte.
"Ja, noch. Ich finde, seit der Geschichte mit dem Pferd der Grafentochter ist er ein wenig... abwesend. Und dabei meine ich nicht nur seine körperliche Abwesenheit. Bei der Arbeit trödelt er, oder, noch schlimmer, macht etwas falsch und muss von vorn anfangen. Das kostet zusätzlich Zeit und Material. Wusstest du, dass Korvin verliebt in das Mädchen ist? Er hat es mir zwar nicht ausdrücklich unter die Nase gerieben, aber ich bin nicht dumm. Oder blind. Um die Aufträge auf der Burg hat er sich immer gerissen. Außerdem habe ich gesehen, wie er sie angesehen hat", erklärte Karl seiner Frau seine Beobachtungen. Die Mutter fiel aus allen Wolken.
"Nein, woher denn! Ist das wahr? Aber dann hast du doch den Grund, warum er so komisch ist. Wenn er in sie verliebt ist, dann trauert er bestimmt um sie, nicht wahr?" Ihr Ärger auf Korvin war durch diese Erkenntnis schon verflogen, da sie nun seine Schwermut nachvollziehen konnte. Alfrida wusste ja nichts von Ulrichs Forderung an ihren Sohn und dem Unheil, was geschehen würde, wenn Korvin bis zum Ultimatum erfolglos blieb.
"Ach, papperlapapp. Liebe. Das ist doch keine Liebe, Alfrida. Das kann gar keine sein. Solche Schwärmereien sind einfach nur kindisch", tat der Sattler die Erklärung seiner Frau ab. Dabei betonte er das Wort Liebe recht abfällig. Diese sah ihn eigentümlich an.
"So, so. Kindisch also." Sie stemmte herausfordernd ihre Arme in die Hüfte. "Karl Sattler, ich hoffe für dich, dass du deine Schwärmerei von damals in dem Alter nicht vergessen hast. Du warst auch mal 20, vergiss das nicht."
"Aber ich habe mir jemanden ausgesucht, der allein schon von Standes wegen zu mir passte. Und ich habe diese Person, namentlich dich, bei der erstbesten Gelegenheit vom Fleck weg geehelicht, so wie das eben sein soll", konterte er und zog seine Frau auf seinen Schoß. Diese juchzte kurz erschrocken auf.
"So, so, hast Du das. Ich erinnere mich, dass ich dich ein wenig habe zappeln lassen. Arno wäre auch ganz niedlich gewesen." Sie küsste ihm die Nasenspitze. Karl verzog bei dem Namen seines alten Nebenbuhlers nur das Gesicht.
"Was ich damit sagen will, ist, dass er nur ein wenig Zeit braucht, sich zu fangen. Gib sie ihm bitte. Mir zuliebe. Und wenn er dafür ein wenig öfter spazieren gehen muss, dann ist es eben so. Solange er nicht fort bleibt und wir gar nichts mehr zum Leben haben, ist es doch halb so wild." Alfrida strich ihrem Mann über die Wange. Er kniff sie in den Allerwertesten, was ihr ein Kichern entlockte.
"Lass das."
Karl grummelte in seinen Bart. Für ihn war das essentiell. Nicht das Necken seiner Frau natürlich, sondern die Sache mit Korvin. Wenn Korvin so weiter machte wie bisher, dann würden sie als Familie bald ernsthaft Probleme haben. Die anderen Jungen waren noch zu jung um richtig mitzuarbeiten. Jedenfalls redete Karl sich das ein, dass die anderen noch zu jung waren. Obwohl Martin bereits 15 war und Kilian 13. Ihn selbst plagten die Gelenke, also musste Korvin ran. Korvin war der Erstgeborene und alle Hoffnung seines Vaters lag deshalb auf ihm, nicht auf seinen Brüdern. Und das Schlimme an der Sache war, dass er es seinem Vater unmöglich recht machen konnte.
Alfrida stand wieder auf und wischte ihre Hände an ihrer Schürze ab. Es war Zeit, weiter ihre Hausarbeit zu machen. Auf ihre Art und Weise wusste sie, wie sie ihren Ehemann ablenken konnte, so dass seine cholerische Art in Zaum blieb und nicht wie ein Vulkan ausbrach. Außerdem waren die Kinder in der Nähe. Karl mummelte sich tiefer in die Decke ein.
"Ich habe mich nur gefragt, wo Korvin wieder abgeblieben ist. Das ist alles", sagte sie leise. "Kein Grund, sich deshalb aufzuregen, Brummbär." Mit einer Bewegung füllte sie Tee in einen Becher und drückte ihn Karl in die Hand. Zwei weitere Becher mit dem heißen Inhalt wanderten vor Kilian und Martin. Ebenso der Teller mit Käse, Brot und gekochte Eier.
"Aber er wird schon wieder auftauchen", sagte sie letztendlich.
"Und wenn er nicht in den nächsten fünf Minuten auftaucht, dann bleibt schon mehr vom Abendessen für uns", warf Martin glücklich ein und sondierte schon mal vorab mit Blicken, was er sich gleich zusätzlich vom Abendessen einverleiben konnte.
Und so war es. Korvin kam wie so oft nicht zum Abendmahl, sondern erst sehr viel später nach Hause.
Korvin stapfte müde in der Dunkelheit zurück. Sein Ausflug heute war erfolglos geblieben, wie den ganzen letzten Monat auch.
Wo war Mathilda nur? Hoffentlich ging es ihr gut. Denn je fester der Winter Einzug hielt, desto mehr machte sich Korvin Sorgen. Was ihn am meisten plagte, war, dass er überhaupt nicht wusste, wo er eigentlich mit seiner Suche beginnen sollte. Aber er würde nicht aufgeben. Er würde nicht müde werden, herauszufinden, was wirklich passiert war, wo Mathilda steckte. Er rief sich den Eid ins Gedächtnis, den sie sich gegenseitig geschworen hatten. Korvin erinnerte sich jeden Tag daran, nämlich dass sie füreinander einstehen würden. Egal, was kommen würde. Damals hatte er das Versprechen in kindlichem Leichtsinn gegeben, doch nun war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Und das nicht nur, weil Ulrich ihn in der Hand hatte, sondern weil Mathilda etwas ganz besonderes für ihn war. Und das würde immer so bleiben. Mit jedem Schritt wirbelte er ein wenig der dünnen Schneedecke auf, die den Erdboden bedeckte. Er hatte die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Kleine Wölkchen kamen aus seinem Mund, wenn er atmete. Es war kalt und im Dorf sah man überall Rauch aus den Kaminen der Häuser aufsteigen. Der Winter hatte begonnen.
Dies war nicht Korvins erster Ausflug gewesen seit Mathildas Verschwinden. Gleich am Tag nach der Suchaktion war er zu dem nun unheilvollen Ort zurückgekehrt. Die einst schönen Erinnerungen daran begannen schon zu verblassen. Korvin konnte nur noch das Grauen spüren, das dort Einzug gehalten hatte. Der zerbrochene Findling würde noch viele weitere Jahrzehnte davon zeugen. Er hatte nochmal alles gründlich abgesucht, aber beim ersten Mal nichts weiter gefunden, nicht einmal dunkle, schwarze Blutstropfen auf die er gehofft hatte, um eine Spur zu erhalten.
Die darauffolgenden Tage waren ebenfalls von Hoffnungslosigkeit geprägt gewesen. Vielleicht hatten die anderen Recht und Mathilda war tatsächlich dem Teufel zum Opfer gefallen? Korvin weigerte sich, das zu glauben. Auch weigerte er sich zu glauben, dass Mathilda tot war. Solange er ihre Leiche nicht gefunden hatte, war sie für ihn am Leben.
Zwei Wochen später allerdings war er nochmals zum Findling zurückgekehrt. Der Herbst mit seinen Windböen hatte mittlerweile Einzug gehalten und auch die herabgefallenen Blätter dieses Ortes aufgewirbelt, ein Spielzeug des Windes. Jedenfalls hatte er sich gesagt, dass es das letzte Mal wäre, dass er hierher kam. Das allerletzte Mal. Er war belohnt worden. Er hatte etwas gefunden, was wichtig war.
Korvin zog seine Faust aus der Hosentasche. Er öffnete sie langsam, ja, fast bedächtig. Darin lag ein Puzzleteil, das zweite nach dem schwarzen Blut, das an dem Dolch geklebt hatte. Er betrachtete den Gegenstand zwischen seinen Fingern und drehte es vor seinen Augen hin und her. Es handelte sich um eine münzgroße, durch den Mondschein angestrahlte, schimmernde, grüngraue Schuppe. Korvin konnte sie keinem bekannten Tier zuordnen. Für eine Schlange oder Eidechse war sie zu groß, und andere Reptilien gab es hier nicht.
Читать дальше