Korvin stapfte durch die bereits gefallenen Blätter entlang des kleinen Bachlaufs, der durch dieses Tal führte. Hier war unberührte Natur. Die Köhler befanden sich auf der gegenüberliegenden Talseite Richtung Deckingen. Ebenso die Holzfäller. In diesem kleinen Seitental war es meist feucht und in der dunklen Jahreszeit, dem Winter, unangenehm kalt. Es gab bessere Ecken für die hiesige karge Landwirtschaft. Immer wieder rief auch Korvin nach Mathilda. Seine Rufe verhallten wie die der anderen ungehört.
Woher sollten sie auch wissen, dass Mathilda längst nicht mehr hier war? Woher sollten sie ahnen, dass es kein Bär, sondern ein echter Drache gewesen war, der Mathilda begegnet war und sie mit sich genommen hatte? Korvin besah sich den Boden und die Bäume um ihn herum. Sie hatten vor kurzem Blutspuren gefunden. Aufgrund deren Lage und Anzahl schlossen sie, dass sie von Mathildas Stute Dara stammen mussten. Das Pferd musste völlig kopflos geflüchtet sein. Allein die Spuren an einem Baumstamm ließ sie zu diesem Schluss kommen. Ebenso waren ein paar Tierhaare daran hängen geblieben als das Pferd daran entlang geschrammt war. Der junge Sattler zog gerade vorsichtig ein weiteres Fellstück aus der Borke heraus. Es war, wie erwartet, braun. Sie waren also auf der richtigen Spur. Wo aber war Mathilda? Er machte sich große Sorgen um das wilde, ungestüme Mädchen, das er bei jedem der spärlichen Treffen immer mehr liebgewonnen hatte, als eigentlich gut für ihn war. Korvin rief sich ihr Bild vor Augen, wie sie an dem steinernen Felsen an ihrem Lieblingsplatz stand. Im Übrigen war er von diesem Ort nicht mehr weit entfernt, er musste nur noch eine Windung des Bächleins umlaufen. Trotzdem konnte man den Fleck nicht einsehen, da die Flora um ihn herum den Blick darauf verdeckte. Zwei wunderschöne dunkle grüne Augen materialisierten sich vor seinem inneren Auge, strahlten ihn an und zwinkerten ihm keck zu, während ein unglaublich anziehendes Lächeln über das nun hinzu gekommene Gesicht über ihre Lippen huschten. Wie gern würde er durch ihr schimmerndes braunes Haar streichen. Nur einmal, dachte er, das würde ihm schon reichen. Nur einmal ihre Wange berühren, sie in seiner Handfläche halten können. Wie sehr er sich wünschte, ihre Lippen auf den seinen zu spüren...
Hundegebell weckte den jungen Mann aus seiner träumerischen Vertiefung. Das Bild verschwand und wurde durch einen der braunen Jagdhunde ersetzt. Korvin schüttelte sich. Das Gekläffe erinnerte ihn wieder daran, weshalb sie hier im Wald herumkrochen. Nicht nur Mathildas geistiges Abbild war wieder verschwunden. Mathilda selbst war weg. Oder doch nicht? Wie auch immer. Korvin hastete los. Irgendetwas war entdeckt worden und er wollte wissen, was es war. Jetzt wurden die ersten Rufe laut. Sie klangen nicht freudig, was Korvin automatisch einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Er brach durch das Gestrüpp, kleine Ästchen ritzten ihm dabei die Haut. Er beachtete es nicht weiter.
Korvin trat durch das Grün. Er war darauf gefasst, irgendwo eine verletzte, oder noch schlimmer, eine gar tote Mathilda zu sehen, umringt von Ulrichs Mannen. Doch er sah nichts dergleichen, was ihn unterbewusst aufatmen ließ. Keine Mathilda.
War das nun gut oder schlecht?
Korvin erfasste den Rest der herrschenden Situation. Der Ort, so wie er ihn kannte, hatte sich stark verändert. Die Vegetation war zerstört, der Waldboden zum Teil aufgewühlt. Ein Baum war gesplittert. Seine Krone lag unten auf der Erde, sein Stamm etwa zwei Meter über dem Erdboden zersplittert. Wie Stalagmiten ragten die Reste davon traurig in die Höhe. Und der Findling... Korvin konnte es kaum glauben. Er stand nicht mehr so, wie er ihn kannte. Der Stein war gespalten. Die obere Hälfte war heruntergerutscht und lag nun halb über dem unteren Teil im Moos und dem angrenzenden Bachlauf. Die Bruchkante leuchtete ihm weiß entgegen und unterschied sich deutlich vom Rest des Felsens, der durch die langen Jahre unter freiem Himmel graugrün geworden war, bewachsen von Moos, kleinen Farnen und anderen Pflanzen, die sich den Stein als ihre Heimat ausgesucht hatten.
"Mein Gott...“, entfuhr es ihm, während er sich weiter umsah. Ulrich stand am gegenüberliegenden Ufer neben zweien seiner Männer.
Die Hunde vor ihm wurden gerade von einer Stelle am Boden gewaltsam am Hals von Hans zurückgezogen. Ulrich selbst kniete sich daraufhin auf den Boden und hob etwas hoch. Es war ein kleines Messer, dessen Klinge geschwärzt war. Andere wiederum betrachteten den Baum oder den zerstörten Fels. Einige der Männer schlugen das Kreuz und murmelten leise ein Gebet, sobald sie den Ort der Verwüstung betraten und das Chaos erblickten. Korvin trat näher zu Ulrich heran. Er wollte hören, was dort gesprochen wurde.
"Mathildas Dolch. Ich hatte ihn ihr zum Geburtstag geschenkt", sagte Ulrich gerade zähneknirschend. Er hob sich die Klinge vor das Gesicht und betrachtete sie eingehend.
"Schwarzes Blut", stellte von Berlingen leise neben ihm fest. "So etwas habe ich noch nie gesehen."
"Ich ebenfalls nicht. Kein Tier, das ich kenne, besitzt schwarzes Blut", meinte der junge Graf und ließ die Hand wieder sinken. Die beiden jungen Männer sahen sich bestürzt an. Ulrich wusste, dass Hans etwas für seine Schwester übrig hatte. Was Hans an ihr fand, konnte Ulrich allerdings nicht so recht verstehen. Sie war doch bloß seine kleine aufmüpfige und verzogene Schwester.
Das Messer jedenfalls wickelte er in einen Lappen, dem ihm sein Getreuer dazu anreichte.
"Eines steht jedenfalls fest: ein Bär kann dafür sicherlich nicht verantwortlich sein." Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu:
"Aber was dann?"
Mittlerweile waren auch mehrere Dorfbewohner hier eingetroffen und sahen sich erschrocken um.
Ulrichs Herold gab daraufhin Befehl, die Umgebung abzusuchen, um vielleicht eine weitere Spur von dem verschwundenen Burgfräulein zu erhalten.
Korvin besah sich den gebrochenen Findling genauer. Er war sichtlich bestürzt. Wer hatte so viel Kraft, diesen dicken Stein, der schon seit so langer Zeit aufrecht und erhaben zum Himmel aufgeragt hatte, zu zerbrechen?
Der Dorfschuster trat zu Korvin heran und sprach neben ihm das aus, was sicherlich viele bereits gedacht hatten.
"Der Teufel. Also das muss der Teufel gewesen sein. Das kann nur der wahrhaftige Teufel gewesen sein, der das Burgfräulein geholt hat!"
"Ach was. Dazu hätte er keinen Grund", entfuhr es Korvin. Er sah den Schuster böse an. Doch es war bereits ausgesprochen und konnte nicht mehr zurückgenommen werden. Andere Männer horchten auf und redeten dem Schuster nach.
"Ja, genau, der Teufel muss es gewesen sein!"
"Er hat Mathilda geholt!"
"Er muss es gewesen sein. Er hat sie für ihr verfehltes Verhalten bestraft!", riefen die Leute durcheinander. Dabei waren nicht nur die Dorfbewohner bei der Sache, sondern auch Ulrichs Gefolgsleute, die davon angesteckt worden waren. Bald darauf wollte keiner mehr weitersuchen. Aus Angst, dass sie vielleicht die Nächsten wären, die vom Satan geholt wurden. Korvin versuchte noch ein paar Mal, die Leute von diesem Gedanken abzubringen, doch ohne Erfolg. Selbst Ulrichs Reden wurden überhört.
Letzten Endes standen die beiden jungen Männer nebeneinander. Korvin fand, dass Ulrich seiner Schwester ähnlich sah. In seinen Gesichtszügen erkannte er die Mathildas wieder. Die beiden standen außer Hörweite der anderen, als Ulrich sein Wort an Korvin richtete.
"Anscheinend sind wir die beiden einzigen, die nicht an diese wildgewordene Theorie glauben", meinte er trocken zu Korvin und betrachtete dabei die umstehenden Leute mit verschränkten Armen hinter dem Rücken. Ulrich hatte es aufgegeben, seine Leute dazu bewegen zu wollen, weiter nach Mathilda zu suchen. Es hatte keinen Zweck.
"Sieht wohl so aus, mein Herr", stimmte ihm Korvin resigniert zu.
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