Die Drachenpranke sauste hinab. Ragnor'rok führte den Schlag mit voller Kraft. Erst im allerletzten Moment hielt ein Quäntchen Vernunft ihn davon ab, Mathilda aus einer Laune heraus einfach zu zerschmettern. Er konnte doch unmöglich seinen zukünftigen Hort töten! Der Drache lenkte seine Wut kurzerhand auf das Pferd. Die Stute sah den Schlag nun auf sich zukommen und ein unheimlicher Schrei entfuhr ihrer Kehle.
Dann, ein peitschenartiger Knall. Die Zügel hatten der Kraft des Pferdes nachgegeben und waren endlich gerissen. Die Stute warf sich herum und gab Fersengeld. Dann traf sie ein harter Schlag in die Flanke. Ein weiterer tierischer Aufschrei. Daras Hinterläufe knickten kurz ein, doch genauso schnell war sie wieder auf den Hufen und jagte in blinder Panik davon. Mathilda hörte nur noch das gedämpfte Trommeln der Hufe auf dem Waldboden. Dann kehrte plötzlich Ruhe ein.
Mathilda blinzelte. Sie... sie lebte noch!
Sie konnte es kaum glauben.
Warum war sie noch am Leben? Langsam hob sie den Blick. Wie ein großer schwarzgrüner Fels ragte der Drache vor ihr auf und betrachtete sie mit seinen mystischen, geschlitzten Augen, die so unendlich wie die Zeit selbst auf die verängstigte junge Frau herabsahen.
Sie lebte. Und der Drache war noch da und sah sie an. Keine weitere Bewegung, damit er nicht noch einmal zu einem Hieb ausholte. Und jetzt?
Ein Zittern durchfuhr Mathilda. Die Klauen vor ihren Augen senkten sich langsam. Drei davon waren an ihren Spitzen blutverschmiert. Daras Blut, dachte Mathilda bekümmert.
Nun demonstrierte Ragnor'rok seine überlegene Kraft vor dem Mädchen. Ein Brüllen erfüllte die Luft um sie herum. Es drang durch Mark und Bein. Der Drachenschwanz peitschte umher und traf den aufragenden Findling. Ein hässliches Knacken erfüllte die Luft, Steinchen flogen umher. Dann brach der Fels in der Mitte entzwei. Die obere Hälfte rutschte schabend über den unteren ab und bohrte sich knackend und krachend in den dunklen Waldboden hinein.
Zeitgleich schlossen sich die Klauen um Mathildas Leibesmitte. Vorsichtig, um sie nicht zu zerquetschen, wie sie feststellte. Der Drachenkopf rückte näher und beschnupperte Mathilda in Zeitlupe von Kopf bis Fuß. Sie roch nach Angst. Gut. Kuhmist. Weniger gut. Und darunter roch er... ihren ganz eigenen Geruch, der ihn so sehr betörte. Er sah dabei sehr andächtig aus.
Ragnor'rok war am Ziel und mehr als verzückt. Jetzt kostete er es auch aus. Mathilda kam sich in diesem Moment wie eine seltene Blume vor, die von einer Hummel auf Nektar begutachtet wurde. Zugegeben, einer Riesenhummel. Einer ziemlich hässlichen Riesenhummel. Einer hässlichen Riesenhummel mit rasiermesserscharfen Zähnen! Ihr wurde schlecht.
Panik ergriff Mathilda. Sie versuchte sich aus dem Drachengriff herauszuwinden, doch vergeblich. Er hielt sie eisern fest. Wandte er einen Deut mehr Kraft auf, wäre es aus und vorbei mit ihr. Mathilda hatte unglaubliche Angst. Schreckliche Angst. Es war so eng. Sie bekam keine Luft! Sie wollte um sich schlagen, doch das ging nicht. Ragnor'rok hielt sie fest umklammert, ihre Arme wurden an ihren Körper gepresst.
"Nun gehörst du endlich mir", murmelte der Drache sanft in ihr Ohr, was Mathilda gerade noch mitbekam, kurz bevor sie spürte, wie sie angehoben wurde. Ihre Gegenwehr erstarb. Kurz darauf lockerte sich der Griff um sie ein wenig, was Mathilda aber nicht mehr wirklich wahrnahm. Die Arme der Ohnmacht umschlangen die junge Frau. Die aufkommende Dunkelheit verschluckte Mathilda.
Kapitel 9
Tizimbach, am Dorfrand, keine Stunde später, Anfang November anno 1427
Korvin war noch ein gutes Stück gewachsen, seit Mathilda ihn zum letzten Mal gesehen hatte, wo er noch eher wie ein großer schlacksiger Junge als wie ein erwachsener Mann ausgesehen hatte. Seine Stimme war jetzt tiefer, der Adamsapfel war deutlich zu sehen, die Schultern waren breiter und muskulös geworden. Außerdem sah man schon dichte blonde Bartstoppeln in seinem Gesicht, was ihn sehr männlich wirken ließ. Im Gegensatz zu Mathilda hatte er sein blondes Haar beibehalten. Die Ärmel seines Hemds spannten sich um seine Oberarme, wenn er die Spaltaxt anhob und sie mit Schwung auf das Stück Holz vor sich niedersausen ließ. Bei der Arbeit, die er verrichtete war das auch nicht verwunderlich.
Zwei kleinere Buchenholzkeile kippten wenig später vom Hackblock auf den Boden neben einen seiner bunten Bälle hinab. Holz für den Winter machen und es aufstapeln gehörte nun einmal dazu. Diese kräftezehrende Arbeit hatte sein Vater seit einiger Zeit ihm übertragen, denninzwischen war ein stattlicher, kräftiger junger Mann von 21 Jahren aus ihm geworden. Seine Leidenschaft für die bunten selbstgemachten Bälle allerdings hatte er beibehalten. Auch die Jugend im Dorf profitierte rege davon. Denn er verschenkte sie gerne, damit die Kinder damit spielen konnten. Seine Eltern hielten es für einen dummen Spleen, den er hoffentlich irgendwann ablegte. Möglichst bald. Denn man verdient ja nichts, wenn man alles herschenkte. Spätestens, wenn er für Frau und Kinder zu sorgen hatte, würde das ein Ende haben, so hofften sie.
Korvin stellte den nächsten Klotz an die Stelle, wo der vorige schon gestanden hatte. Dann holte er erneut mit der Spaltaxt aus und ließ sie auf das Stück Holz niedersausen. Genau wie vorhin fielen die beiden Hälften zu Boden.
Der nächste Klotz war an der Reihe. So ging es schon eine ganze Weile. Korvin wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Es war zwar kühl, doch körperliche Arbeit wärmte einen.
Gerade als er zum nächsten Holz greifen wollte, preschten Reiter auf ihn zu. Korvins Zuhause lag nicht direkt im Dorfkern, sondern etwas außerhalb Richtung Schlossberg. Wenn jemand zur Burg oder von der Burg ins Dorf kam, gelangte er unweigerlich hier vorbei.
Er dachte sich nichts dabei. Es kamen oft Berittene von der Burg vorüber. Jagdtrupps zum Beispiel. Diese hier hatten die Kleidung der Burgwachen an, aber das konnte ihm egal sein. Er musste das Holz machen, damit sie im Winter nicht erfroren. Deshalb beachtete er das Szenario nicht weiter und brachte sein Holz in die richtige Position, um es anschließend zu spalten.
Korvin hob die Axt. Einer der Reiter zügelte sein Pferd, als er Korvin sah und hielt in seiner Nähe an. Die anderen ritten weiter.
"He, du!", wurde er plötzlich von der Seite her angerufen. Korvin ließ die Axt hinuntersausen und drehte sich anschließend um.
"Ja?", fragte er zurück, stellte die Axt auf dem Boden ab und lehnte sich auf deren Stiel, während er die Burgwache fragend ansah. Er kannte den Mann. Er kam öfters ins Dorf herunter und war dann in der Dorfschenke zu finden, wo sich Korvin ab und an ein Bier verdiente, indem er bedienen half.
Was konnte dieser von ihm wollen, fragte er sich und bekam sogleich die Antwort auf die stumme Frage.
"Kam ein Reiter hier vor kurzem vorbei, Bursche?"
Korvin schüttelte den Kopf.
"Nein", antwortete er wahrheitsgemäß.
"Sucht ihr jemanden?", fragte er nun den Mann auf dem Pferd, doch die Wache zog ohne ein weiteres Wort die Zügel seines Reittiers an. Der Kopf des Pferdes ruckte hoch, dann gab er ihm die Fersen in die Flanken und galoppierte seinen Gefährten hinterher.
"Na, Danke", murmelte Korvin beleidigt, schüttelte missbilligend den Kopf und machte sich wieder an seine Arbeit. Kurz danach hallte ein unnatürlicher Schrei durch das Tal. Der junge Mann hatte so etwas noch nie gehört. Da es sich jedoch nicht wiederholte, arbeitete er weiter.
30 Minuten später, Korvin war noch immer bei der Arbeit, gab es Geschrei aus dem Dorf, was Korvin diesmal aufhorchen ließ. Er trat von seinem Hackklotz weg, um besser sehen zu können. Etwas kam recht schnell die Straße entlang. Dahinter liefen einige der Dorfbewohner aufgeregt hinterher. Es war offensichtlich, dass dieses etwas aufgehalten werden sollte, selbst aber gar nicht daran dachte, langsamer zu machen, geschweige denn zu stoppen.
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