Außerdem... Wer sagte, dass Korvin genauso empfand? Sicher nicht. Vermutlich hielt er sie nur für irgendein Mädchen, dem er nicht weiter Beachtung schenkte. Nicht mehr, als anderen.
Mathilda wischte sich eine Träne weg, griff in ihre Manteltasche und beförderte den kleinen Ball daraus ans Tageslicht hervor, der darin geruht hatte. Korvins erstes Geschenk an sie. Die Farben waren schon etwas verblasst. Hie und da hatte sie das Spielzeug schon reparieren müssen, weil über die Jahre hinweg an einigen Stellen die Nähte aufgebrochen waren. Trotzdem konnte sie sich nicht davon trennen, es war ihr lieb und teuer. Wenn sie ihn in der Hand hielt, war es für sie, wie wenn Korvin hier bei ihr wäre. Sie drückte ihn leicht. Langsam verflog ihr Ärger und sie konnte wieder klarer denken. Aber eine Lösung fand sie vorerst nicht.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Ihre Stute Dara spitzte plötzlich die Ohren und scharrte mit den Hufen im Laub. Dann legte sie die Ohren flach nach hinten und schnupperte nervös. Mathilda beobachtete sie dabei. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit.
Irgendetwas stimmte nicht. Hatten die Wachen sie so schnell gefunden und schleppten sie zurück in die Hiltenburg zu ihrem Vater? Möglich, dachte sie bitter. Mathilda sah weiter auf Dara. Das mulmige Gefühl verstärkte sich. Sie kam sich beobachtet vor. Mathilda sah sich suchend um.
Da war nichts.
Hatte sie sich geirrt? Vermutlich. Musste wohl so sein, denn sie sah nichts Auffälliges.
Aber da war immer noch die nervöse Dara. Tiere waren bekanntlich empfindsamer in diesen Dingen als Menschen. Mathilda stand auf und ging zu ihrem Reittier hinüber. Sorgsam strich sie über ihre Mähne.
"Dara! Ruhig meine Kleine, hier ist doch nichts", versuchte sie die Stute und damit auch sich selbst im Flüsterton zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. Nicht mal bei sich selbst.
Dann, auf einmal, begann Dara langsam rückwärts zu gehen, wie wenn etwas, das ihr nicht geheuer war, auf sie zukam. Doch die festgebundenen Zügel spannten sich bis zum Zerreißen an und hinderten sie daran. Ängstlich wieherte das Pferd auf, begann sich plötzlich panisch aufzubäumen und kämpfte gegen seine Fessel an. Die junge Frau daneben brachte sich mit ein paar Schritten in Sicherheit, bevor Dara sie mit ihren Vorderhufen verletzen konnte. Sie wollte etwas sagen, doch ein Geräusch hinter ihr ließ sie inne halten. Ein tiefes Grollen war zu hören gewesen.
Mathilda hörte es wieder. Diesmal war es ein Stück näher. Viel näher. Ihr Kopf ruckte herum in die vermeintliche Richtung. Dann sah sie es. Oder besser gesagt, etwas. Die Luft flimmerte zwischen den Bäumen, es schien als ob der Wald persönlich auf sie zukommen würde. Die Konturen waren so verschwommen, dass Mathilda nicht recht erkennen konnte, was das war. So etwas hatte sie noch nie gesehen! Aber egal was es war, es war furchteinflößend. Sie musste hier weg! Auf der Stelle!
Sie hechtete zu Daras Zügeln und fummelte fieberhaft daran herum, um sie vom Baum zu lösen, ungeachtet der Hufe, die das Pferd in die Lüfte warf. Das Tier gebärdete sich nun wie toll. Mathilda versuchte, Dara vom Baumstamm los zu binden, doch durch die wilden, panischen Bewegungen des Pferdes gelang es ihr nicht auf Anhieb. Ein Blick über ihre Schulter ließ es Mathilda eiskalt über den Rücken schaudern. Dieses seltsame Ding war hier, hier gegenüber dem Bachlauf angekommen. Das Flimmern hatte aufgehört, stellte sie erschrocken fest. Die Konturen verfestigten sich langsam. Was sie dort einen Augenblick später auftauchen sah, jagte ihr Todesangst ein. Und dem Pferd hinter ihr ebenso.
Dunkle, schwarz-grau mit grünem Schimmer überdeckte Schuppen wurden sichtbar, ein riesiger, hässlicher Kopf mit Dornen daran kristallisierte sich aus der Umgebung heraus. Schwingen, die größer als alles waren, was sie in diesem Moment noch ersinnen konnte, dolchartige Zähne und scharfe Klauen blitzten auf, schärfer, als jedes ihr bekannte Schwert. Ein wildes Schnauben entrang sich der Kehle des... Drachen!
Mathilda war starr vor Schreck. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, solch einem Tier jemals zu begegnen. Sie hatte die alten Erzählungen alle für Ammenmärchen abgetan. Drachen gab es doch nicht. Doch jetzt...
Erst, als das riesige Wesen einen Schritt vor und auf sie zuging, kam Bewegung in das Mädchen. Das leise Platsch, als die Klaue in das kleine Bächlein eintauchte, hörte sie in ihrer Panik nicht mehr. Sie warf sich herum und wollte zuerst fliehen. Doch die wildgewordene Dara versperrte ihr den Weg. Auf der anderen Seite war es der große Fels und der Bach, die eine Flucht verhinderten.
Sie drehte sich wieder um. Wenn sie schon sterben sollte, dann würde sie dem Tod wenigstens ins Auge blicken. Außerdem konnte sie Dara nicht alleine lassen.
Der Anblick war so scheußlich, fand sie. In diesem Moment kam ihr Korvins Ball wieder in den Sinn, den sie krampfhaft in der Hand hielt. Die Knöchel waren schon weiß vom Zudrücken. Er spendete ihr ein wenig Trost in diesem Moment, was Mathilda seltsam vorkam. Aber er erinnerte sie an etwas, das sie in der anderen Tasche mit sich herum trug. Wie von selbst glitt ihre Hand hinein und beförderte ein kleines Messer zutage, das sie von ihrem großen Bruder Ulrich einst zu ihrem Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Die Lederscheide, in der es ruhte, war mit einem Handgriff abgestreift. Sie hob abwehrend die Hand.
Ihr unheimliches Gegenüber betrachtete ihre Bemühungen amüsiert. Ragnor'rok fand es niedlich, dass Mathilda offensichtlich vorhatte, sich und ihre Stute mit diesem... diesem Zahnstocher zu verteidigen! Er lachte amüsiert, was sich für Mathilda wie ein Schlachtruf anhörte. Nicht einmal die langen scharfen Schwerter der Ritter konnten ihm normalerweise etwas antun, wenn sie nicht gerade auf seinen weicheren Bauch mit den kleineren Schuppen draufhielten, so wie der Letzte es einst getan hatte. An den großen Schuppen prallte selbst ein Zweihänder oder eine Axt einfach ab und wurde auf Dauer stumpf dabei.
Das lachende Grollen, das er zu Mathildas Verhöhnung dabei ausstieß, ließ sie ihre Hand fester um den Messergriff schließen. Dara indes war halb verrückt vor Angst. Wie wild zerrte die Stute an ihrer Fessel. Kein Wunder, denn ein Drache war der Inbegriff eines Todfeinds für sie.
Mathilda hatte alle Mühe aufzupassen, um nicht in Daras Umkreis zu kommen, wo die Stute sie niedertrampeln würde.
"Verschwinde! lass uns in Ruhe!", brüllte sie.
Doch der Drache tat nichts dergleichen. Im Gegenteil, er kam näher auf sie zu.
Ragnor'rok triumphierte.
Sein Schatz war zum Greifen nahe. Gleich würde er sie berühren...
Ragnor'rok hob eine Pranke und griff nach Mathilda aus. Diese schwenkte ihre lächerliche kleine Waffe und stieß nach vorn. Sie spürte einen harten Widerstand, dann glitt die Klinge ab und fand gleich darauf ein Ziel.
Ragnor'rok zuckte kurz zurück. Ungläubig betrachtete er die kleine Stichwunde, die Mathilda ihm an seinem Vorderlauf zugefügt hatte. Erstaunlich. Das Ding war so klein, dass es sich doch tatsächlich unter seine Schuppen schieben konnte. Eine war durch den Stoß abgebrochen. Das hatte er nicht bedacht. Diese Unachtsamkeit erhitzte sein Drachenblut und schaltete seinen Instinkt an. Der Schmerz war gering, doch ein Drache hasste es von Natur aus, verletzt zu werden. Denn in seinen Augen war er schließlich unverwundbar!
Lauthals brüllte er seine Verärgerung hinaus, spannte automatisch die Hinterläufe an und machte einen bedrohlichen Satz nach vorn. Dabei hob er die Pranke und holte zu einem Schlag aus.
Mathildas Augen weiteten sich. Ihr letztes Stündlein hatte geschlagen, dachte sie. Ausweichen würde sie diesem Schlag nicht können. Entsetzt schloss sie die Augen und erwartete den Tod, der unweigerlich gleich eintreten musste, da half ihr auch das kleine Messer in ihrer Hand nichts mehr. Sie ließ es achtlos fallen, ging in die Knie und versuchte, ihren Kopf mit den Armen zu schützen.
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