"Was zum...“, entschlüpfte es ihm, während er noch auf der Treppe stehen blieb und sich gen Hausausgang drehte. Agnes folgte seinem Beispiel.
"Was ist denn überhaupt los?", fragte sie verwirrt, die noch nicht ganz verstand, dass das Geschrei und die Frage ihres Mannes wohl miteinander zusammenhingen. Dann erst kapierte sie.
Mathilda! Der Tumult konnte nur mit ihrer Tochter zusammen hängen!
Just betrat ein Stallknecht aufgeregt das herrschaftliche Wohnhaus.
"Verzeiht, Graf Helfenstein, aber gerade ist eure Tochter aufgebracht und schimpfend im Stall aufgetaucht, hat Dara gesattelt und ist ohne Begleitung zum Tor hinausgeritten. Wir konnten sie nicht aufhalten, Herr. Und sie hat nicht gewartet, damit sie jemand begleiten kann, obwohl...“
Mehr brauchte der Graf nicht zu hören. Er ließ den vor sich hin stammelnden Stallknecht einfach stehen. Mit großen Schritten polterte er die Stufen hinunter und hastete hinaus. Der Graf eilte, die nächste Gelegenheit nutzend, die Wehrmauer zu erklimmen, nach oben in Tornähe und spähte hinaus in die Landschaft. Hier draußen war es kühl. Aber das war nicht das Schlimmste. Kühl war es im Herbst immer. Oftmals auch neblig, so wie heute. Der Nebel waberte wie ein weißer Schleier um die Burg herum.
"Herr, wir haben sie binnen Sekunden aus den Augen verloren in diesem Nebel. Und auf Rufe reagierte sie nicht", unterrichtete ihn ein Mann der Wache, der nun neben ihm im Wehrgang der Burg stand. Er brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
"Mathilda!", brüllte er trotzdem mehrmals aufs Geratewohl von der Mauer hinunter in die Nebelschwaden hinein.
Doch eine Antwort bekam er nicht.
Mathilda war fort.
"Los, schickt die Wachen aus, um sie zu suchen", befahl Graf Helfenstein dem Mann neben sich, welcher sich beeilte, den Befehl weiterzutragen, damit er schnell ausgeführt werden konnte. Helfenstein selbst stieg wieder hinab und eilte zu den Stallungen.
"Sucht sie! Und bringt sie mir heil wieder. Informiert den Jagdtrupp unter Ulrich, dass sie aufpassen sollen, welches Wild sich jetzt mit im Wald befindet", rief er den Männern zu, die sich schon bereit machten, Mathilda hinterher zu reiten. Sein Sohn war in die Wälder jagen gegangen. Meist war der Nebel nur um die Bergspitze, auf der die Hiltenburg sich befand, recht dicht. Unten im Tal und in den dortigen Jagdrevieren hatte man oft noch freie Sicht. Aber sie wussten ja nicht genau, wohin Mathilda geritten war.
Der Hauptmann und sein Gefolge nickten bestätigend, dann preschten die Reiter zum Tor hinaus und wurden vom herrschenden Nebel verschluckt.
Kapitel 8
Oberbergfels, am selben Tag, Anfang November anno 1427
Ragnor'rok lag auf der Lauer. Wieder einmal, wie so oft. Der Tag war trüb und neblig. Eigentlich sollte es heute nicht sonderlich spannend werden. Bei dem Wetter war sowieso nichts los um die Hiltenburg. Aber was sollte er denn sonst tun? In seiner Höhle liegen? Da konnte er genauso gut hier herumliegen, hier, unterhalb des Oberbergfelsens und seiner Lieblingsbeschäftigung der vergangenen 3 Jahre nachgehen. Warten. Lauern. Auskundschaften. Faul sein in gewissem Sinne. Vielleicht würde er heute Mathilda sehen.
Ma-thil-da.
Sein Hort, sein Schatz, den er gedachte, sich bald einzuverleiben. Langsam wurde er unruhig, je länger es andauerte, seinen Instinkt zu unterdrücken. Sie sich einfach zu holen. Egal, wer ihn dabei zu sehen bekam, egal, wie viele er dafür töten müsste. Die letzten drei Jahre waren kaum auszuhalten gewesen. Aber er musste Geduld haben. Seine Zeit würde kommen...
Und sie kam eher, als er es sich je erträumt hatte. Nämlich jetzt.
Mehrere Schreie auf der Burg gegenüber erregten seine Aufmerksamkeit. Ragnor'rok hob den massigen Kopf an, um besser spähen zu können. Leider verdeckte der Nebel die Burg und deren Umgebung. Um ihn selbst waberten die feuchten Schwaden ebenfalls. Aber ein Drache hatte mehrere Sinnesorgane, die er einsetzen konnte. Er war auf seine scharfen Augen nicht angewiesen. Ohren besaß er schließlich auch noch. Und eine feine Nase.
Immerhin stimmte die Windrichtung, nicht umsonst hatte er sich diesen Platz für sich ausgesucht.
Der Lindwurm schnupperte. Viele Eindrücke eroberten dabei sein empfindliches Geruchsorgan. Wachholder, Laub, ein paar Herbstblumen und Kräuter aus der direkten Umgebung. Unwichtig. Er blendete sie aus und konzentrierte sich auf die Ferne. Noch mehr Gerüche drangen von dort in seine Nase. Es waren nur Nuancen, nichts intensives. Er sortierte sie aus. Eines, nach dem anderen, wie er es gerade schon getan hatte. Heu. Feuer, vermischt mit etwas, das nach gekochtem Gemüse roch. Menschen und deren Exkremente und Ausdünstungen. Ragnor'rok verzog sein Antlitz zu einer Grimasse. Na lecker. Er schnüffelte weiter. Getier. Schafe, Kühe und sowas.
Doch dann geriet der Drache in helle Verzückung. Unter anderem war da, zwischen Kuhdung und Ochsengestank... da war doch darunter... SIE. SIE war da. Er roch es jetzt ganz deutlich. Vorher konnte er es kaum von den anderen Gerüchen unterscheiden, doch jetzt... Wie eine Droge sog er die Luft gierig in seine Nüstern. Der Geruch wurde deutlicher und kam näher. Zusätzlich roch er die schwachen Ausdünstungen eines Pferdes, welches sich mit IHREM Geruch vermischte. Was auch immer der Gestank nach Mist zusätzlich zu bedeuten hatte, er ignorierte es. Sie ritt von der Burg!
Allein, wie er zufrieden feststellte, als er weiter schnüffelnd die Luft einsog.
Ragnor'rok erhob sich geschmeidig. Nun war seine Zeit gekommen. Nun würde er aktiv werden. Endlich!
Und so begann auch er sich in die Richtung ihres Duftes zu bewegen und verließ seinen bisherigen Ruheplatz.
Kochend vor Wut über die Umstände, die über sie hereingebrochen waren, trieb Mathilda ihre Stute Dara die Wiesen des Schlossbergs hinunter, um möglichst großen Abstand zur Hiltenburg und ihrer Familie zu gewinnen. Der Nebel, der sich um die Bergspitze ballte, war von Vorteil, um nicht gesehen zu werden.
Gut so, dachte sie. Sie wollte nämlich niemanden um sich haben. Gar keinen. Sie war ziemlich wütend, vor allem auf ihren Vater. Wie konnte er ihr nur so etwas antun? Spanien! Und das nur, um mit dem Geld ihres Ehemanns seine doofe Grafschaft zu vergrößern! Das war einfach nur fürchterlich, fand sie.
Die junge Frau lenkte ihr Reittier in den an die Wiesen grenzenden Laubwald hinein. Dabei vermied sie den eigentlichen Weg. Wie von selbst schlug sie die Richtung zu ihrem Lieblingsplatz ein, um in Ruhe über alles nachdenken zu können. Was sie zum Beispiel nun tun sollte. Das alles einfach akzeptieren und sich in ihr Schicksal fügen? Keine gute Vorstellung, fand Mathilda. Es musste einen anderen Weg geben. Es musste einfach!
Daras Hufe raschelten leise durch das Laub. Mathilda hatte das Pferd in einen langsamen Tritt fallen lassen, damit es nicht noch über herumliegendes totes Holz stolperte.
Bald darauf konnten die beiden schon ein leises Gurgeln hören, das von dem kleinen Waldbach stammte, auf den sie zuhielt.
Als sie angekommen waren, der Findling ragte wie üblich starr in die Höhe, stieg Mathilda von Daras Rücken und band das Tier mit den Zügeln an einem Baum fest. Das Plätzchen war einfach genial, fand das Mädchen. Von den wenigen Wegen war es nicht einzusehen, und trotzdem war es durch Wildwechselwege gut erreichbar, auch mit der großen Dara unter sich. Büsche und Farne tarnten die kleine Lichtung zusätzlich. Kurz, ein Ort, an dem man seine Ruhe hatte. Genau das, was Mathilda jetzt brauchte.
Sie setzte sich auf einen Stein und bohrte mit den Fingern im umliegenden Moos herum. Stießen ihre Finger dabei auf einen Kiesel, so puhlte sie ihn aus dem Erdreich und warf ihn ins Wasser. Dann beobachtete sie die dabei entstehenden kreisförmigen Linien, die mit der Zeit ans Ufer zurückschwappten. Das Leben war so ungerecht! Niemand verstand sie. Niemand. Niemand, außer... außer Korvin, fiel ihr spontan ein. Ja, Korvin war wohl der Einzige, der sie überhaupt verstand. Und der sie einfach so akzeptierte, wie sie war. Der Junge, der sie einst verprügeln wollte, als sie ihn über den Haufen gerannt hatte und besonders frech zu ihm gewesen war. Mathilda musste bei dem Gedanken daran schmunzeln. Vor allem, als sie sich sein Gesicht ins Gedächtnis rief, als er erfahren hatte, wer sie war. Ihre kleinen Wortgefechte. Ihre gegenseitigen Kleinigkeiten, die sie hier an diesem Ort untereinander ausgetauscht hatten. In diesem Augenblick ging ihr auf, dass sie sich vielleicht doch verliebt hatte. Dass sie schon lange heimlich in ihn verliebt war, aber es der Einfachheit halber geleugnet oder abgestritten hatte. Oder nicht hatte wahrhaben wollen, weil der Gedanke daran zu sehr schmerzen würde. Vor allem, weil ihr bewusst war, dass es keine Zukunft hatte. Das war ja genau das, was ihr alle anderen einreden wollten! Könnte sie doch nur ausbrechen aus dem ganzen Adelsgehabe und mit Korvin fortgehen. Aber das ging ja nicht. Korvin war nicht frei. Genauso wenig wie sie. Nur, wie sie einst schon festgestellt hatten, auf zwei unterschiedliche Arten.
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